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Mai | 2010

Oberlehrer Anton Grosche und die


Heimatgrüße des Amtes Medebach 1939–1944

 

Conny Rempe und Nikolaus Schäfer (Hrsg.): Die Heimatgrüße 1939 bis 1944 des Amtes Medebach. Schriften des Heimat- und Geschichtsvereins Medebach, Heft 15, 1998.

„Die ,Heimatgrüße des Amtes Medebach‘ sind ein vom Amt Medebach herausgegebenes Nachrichtenblatt für die Soldaten des Amtes, das vom September 1939 bis April 1944 in 27 Ausgaben erschien. Die ´Heimatgrüße´ sollten den Soldaten Nachrichten aus der Heimat bringen, sie vor allen Dingen aber aufmuntern. Mangel an Papier – heute unvorstellbar – beendete die Herausgabe“ (Vorwort). Jede Ausgabe bestand aus einem langen Teil mit Nachrichten aus der Stadt Medebach, geschrieben von Anton Grosche, über Jahrzehnte Lehrer am Medebacher Progymnasium, und kürzeren Berichten aus den Dörfern des Amtes, die von dort ansässigen Bürgern verfasst worden sind.

Grosches Briefe enthalten zum einen ausführliche Nachrichten aus dem Leben der Medebacher: Geburten, Hochzeiten, Todesfälle, Wetter und Landwirtschaft, sowie die meist humorvolle Erzählung von Begebenheiten in Sauerländer Platt.

Zum anderen betätigt sich der Autor in jedem Brief ausführlich und dezidiert als Propagandist des nationalsozialistischen Regimes und seines Krieges. Er übernimmt affirmativ Führerkult, militärische Hybris, den Wahn von der Herrenrasse, aggressive Verachtung vor allem der slawischen Völker. Schwülstig bedient er den Mythos Heldentod. Die in jeder Ausgabe der „Heimatbriefe“ im Anschluss an Grosches Text abgedruckten Botschaften der Autoren aus den umliegenden Dörfern beweisen, dass es für derartige Exzesse der Inhumanität keinerlei Zwang gab.

Mit Anton Grosche[1] sollte man deshalb nicht so gütig und verzeihend umgehen, wie es die Herausgeber im Vorwort tun. Gerade ein gebildeter und nach eigenem Selbstverständnis in den christlichen Werten verwurzelter Mensch musste schon früh den inhumanen Charakter der Nazibewegung erkennen, vor allem die Menschenverachtung und Skrupellosigkeit ihrer Führer, s. z.B. Sebastian Haffners „Geschichte eines Deutschen“.[2] In Berlin habe ich Menschen kennen gelernt, die keinen einzigen Augenblick auf die Nazis gesetzt hatten, aus ihrem inneren Anstand heraus, oft „instinktiv“, denn es handelte sich meist um „einfache“ Leute, ohne akademische Bildung. Einige haben wegen ihrer klaren menschlichen Haltung schwer leiden müssen, da sie aus dieser Haltung heraus irgendwann auch handelten.[3] Auch in Medebach gab es diese anständigen „einfachen“ Menschen. Klaus Schäfer hat in seiner „Jüdischen Gemeinde“ sechs von ihnen ein Denkmal gesetzt (Beerdigung Carl Meyerhof 1937)[4].

Bereits vor der Auslieferung der Staatsmacht an die Nazis hatte diese „Bewegung“ ihre Ablehnung von Demokratie, Rechtsstaat und Humanismus unübersehbar zum Ausdruck gebracht. Der Antisemitismus war ein fester Bestandteil ihres öffentlichen Auftretens. Vor allem die SA hatte über Jahre hinweg zahlreiche Verbrechen begangen, über die reichsweit in der Presse berichtet wurde. Ein geistig normaler Deutscher konnte diesen Informationen überhaupt nicht entgehen, die grundsätzliche – programmatische wie faktische – Verachtung von Recht und Gesetz durch die Nazis war offenkundig. Für die Gebildeten gilt zusätzlich, dass sie auch die implizite Inhumanität der Nazi-Ideologie erkennen mussten; sie haben diese Erkenntnis teils verdrängt, teils war es gerade die Inhumanität der Nazibewegung, die sie anzog.

Für die Bereitschaft zur Verdrängung spielt besonders bei Konservativen der Versailler Vertrag eine Rolle. Sebastian Haffner beschreibt in „Die sieben Todsünden des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg“ den Schock und das Trauma, die Niederlage und Versailles gerade im national-konservativen Teil der bis zuletzt in Siegeszuversicht gehaltenen deutschen Bevölkerung ausgelöst haben.[5] In der Hoffnung auf die Beseitigung dieser „Schande“ durch eine starke deutsche Regierung, durch den „starken Mann“, war man bereit, das Verbrecherische zu übersehen. Der Schmerz über Versailles kommt in den „Heimatgrüßen“ wiederholt zum Ausdruck. Grosche hatte als Soldat den 1. Weltkrieg erlebt und erlitten. Aber musste ein gebildeter, sich zum Christentum bekennender Deutscher nicht trotz tief empfundener Demütigung durch den Versailler Vertrag erkennen, dass ein Sieg Nazi-Deutschlands ein schreckliches Verhängnis über die Völker Europas gebracht hätte, das deutsche Volk eingeschlossen?

Naziterror – vor aller Augen

Was Anton Grosche – daran kann es keinen Zweifel geben – vor Verfassen der „Heimatbriefe“ gewusst hat: Unter den vielen, von der SA im ganzen Reich unmittelbar nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler begangenen Verbrechen und Übergriffen – alles als solche erkennbare schwere Rechtsbrüche – greife ich die „Köpenicker Blutwoche“ heraus, die sich dieser Tage (2003) zum 70. Mal jährte. Anhand vorbereiteter Listen drangen in der Nacht vom 21./22. Juni 1933 SA-Horden in die Wohnungen von Sozialdemokraten und Kommunisten ein, verschleppten, folterten und ermordeten sie. Die Leichen fanden Bürger in den Folgetagen im Fluss Dahme treibend. Sowohl die Nazi- wie auch die noch nicht gleichgeschaltete Presse berichtete darüber.[6]

Jeder erwachsene Deutsche, der nicht absichtlich seine Augen verschloss, wusste, dass die Nazis sofort nach dem 30. Januar 1933 ohne Rechtsgrundlage zunächst Gefängnisse und dann Konzentrationslager einrichteten und dort viele ihrer Gegner ohne richterlichen Haftbefehl eingesperrt hielten. „Die Zahl der illegalen `Verhaftungen` belief sich in Preußen bis Ende April 1933 auf bis zu 30 000. In Berlin gab es in den kommunistischen und sozialdemokratischen Arbeitervierteln über 100 improvisierte Folterkammern.“[7] Um ihre Gegner einzuschüchtern, haben die Nazis sogar gezielt dafür gesorgt, dass die Bevölkerung vom Terror gegen Andersdenkende und Juden und von der Existenz der illegalen Lager Kenntnis erhält.[8] „So berichtete der Berliner Rundfunk schon im Mai 1933 ausführlich und live über eine Razzia in der nahe der Volksbühne gelegenen Grenadierstraße, die sich in erster Linie gegen die dort lebenden Kommunisten und aus Osteuropa eingewanderten jüdisch-orthodoxen Bewohner richtete.“[9] Für die in den ersten Monaten nach ihrer „Machtergreifung“ an Zehntausenden von Bürgern begangenen Straftaten der Freiheitsberaubung, der Körperverletzung, des Totschlags und des Mordes erfanden die Nazis zynisch die Bezeichnungen „Schutzhaft“ und „auf der Flucht erschossen“, die der gesamten Bevölkerung in ihrer realen Bedeutung geläufig waren.[10]

Aufschlussreich ist, dass die Nazi-Führung nach dem Reichstagsbrand Ende Februar 1933 im ganzen Reich spontan in den Verdacht der Brandstiftung geriet. Über den Charakter der „Bewegung“ und ihres Regimes bestand bei der Mehrheit der deutschen Bevölkerung offensichtlich keine Illusion. Die Deutschen wussten, mit wem sie es zu tun hatten. Büßen mussten für den Reichstagsbrand vor allem die Kommunisten: Verhaftungen, Wahlkampfverbot, dann Parteiverbot und Aberkennung der Mandate. Kurz darauf löschten die Nazis SPD und Gewerkschaften aus, viele ihrer Funktionäre und Denker verschwanden in der „Schutzhaft“. Auch diese Moral- und Rechtsbrüche verheimlichten die Nazis keineswegs. Sie prahlten geradezu damit, auf Kundgebungen, im Rundfunk, in den Zeitungen, in der Wochenschau. Die Mehrheit der Bürger störten diese Verfassungsbrüche nicht.

Jeder, und wirklich jeder, Deutsche war Zeuge der gleich nach Hitlers Machtantritt einsetzenden Ausgrenzung der Juden, alle in diesem Land erlebten Tag für Tag die vom Regime einschließlich der „normalen“ staatlichen Verwaltungen erfindungsreich gesteigerten Demütigungen, Schikanen und Rechtsbrüche, die diese Mitbürger über sich ergehen lassen mussten. Marcel Reich-Ranicki erwähnt in seinen Erinnerungen beiläufig, dass er die aktuellen judenfeindlichen Maßnahmen jeweils der Tageszeitung entnahm – einer ganz normalen, nicht etwa einer speziellen für Juden.[11]

Feindbild „Die Roten“

Hier haben wir es mit einem fast das gesamte damalige konservative Bürgertum, nicht nur in Deutschland, kennzeichnenden Phänomen zu tun. Die von den Nazis begangenen Rechtsbrüche wurden, wenn nicht gar begrüßt, so doch ohne innere Empörung und erst recht ohne Protest hingenommen, solange sie sich „nur“ gegen Juden und gegen den innenpolitischen Gegner richteten: Kommunisten, Sozialdemokraten, Gewerkschafter, zwischen denen der Bürger und auch die Bürgerin kaum differenziert hat, in ihren Augen bildeten sie eine bedrohliche Einheit – die „Roten“: Vaterlandsverräter und Umstürzler, denen nichts heilig ist, noch nicht einmal das Eigentum. Mein Vater und andere aus seiner Generation antworteten auf meine Frage, warum um Himmels Willen sie denn die Nazis gewählt hätten: „Uns blieb doch nichts anderes übrig, sonst wäre Deutschland doch kommunistisch geworden.“ Hier spricht die Angst vor sozialer Emanzipation, die der Bürger als Verlust eigener Privilegien begriff. Sie verband sich mit dem Trauma von Versailles: Die Dolchstoßlegende lieferte die Erklärung und stellte das vertraute Weltbild scheinbar wieder her. Es waren doch „die Roten“, die „unserem“ unbesiegten Heer den Dolch des Verrats und der Meuterei in den Rücken gestoßen haben! Die Dolchstoßlegende ist die größte Infamie und der folgenschwerste Betrug an der Bevölkerung in der deutschen Geschichte seit dem Bauernkrieg.[12] Ihr Erfolg beruhte nicht allein auf Unwissenheit, sondern in hohem Maße auf dem trotzigen nicht wissen Wollen und der beharrlichen Faktenresistenz des bürgerlichen Deutschland.

Wir in der Demokratie Aufgewachsenen stehen dem gespaltenen Rechtsempfinden des damaligen Bürgertums verständnislos gegenüber (gern übersehend, dass es auch heute noch in unserer Demokratie unterschwellig existiert, nicht nur an Stammtischen). Sollten wir dem Anton Grosche und seinen Mitbürgern diese Haltung nachsehen, weil sie ja in ihrer Zeit und in ihrem sozialen Milieu der Konsens war? Die zahlreichen Bürgerlichen, die sich vom Naziregime nicht haben vereinnahmen lassen, zeigen, dass es auch anders ging.[13] Wir „Jungen“ haben nicht das Recht, unseren Eltern vorzuwerfen, dass ihnen der Mut oder die Erkenntnis oder beides fehlte, um das Los des isolierten und stets gefährdeten Außenseiters auf sich zu nehmen. Doch dass sie, christlich die einen, im Sinne von Klassik und Aufklärung die anderen erzogen, angesichts der Entwürdigung und Entrechtung der politisch Andersdenkenden und von Bürgern, denen unabhängig von ihren Ansichten und ihrem Verhalten eine angeblich mangelhafte Abstammung zur Last gelegt wurde, überhaupt kein Unrechtsbewusstsein aufkommen ließen, auch nicht nach der Katastrophe, bleibt eines der ungeklärten Phänomene dieser Zeit.

Naziterror gegen Katholiken

Das Naziregime hat schon früh neben seinen Widersachern aus der Arbeiterbewegung auch regimekritische Angehörige der christlichen Kirchen verfolgt. A.G., ganz und gar im katholischen Milieu lebend, wusste vom Mord an Erich Klausener während des „Röhm-Putsches“ 1934, das ist zweifelsfrei.

Dr. Erich Klausener, Ministerialdirektor im Reichsverkehrsministerium, war einer der führenden Männer der katholischen Laienbewegung. Nicht nur in Kirchenkreisen hat seine Ermordung große Empörung ausgelöst. Zudem musste ein preußischer Gymnasiallehrer eigentlich wissen, dass in einem Rechtsstaat niemand ohne Urteil getötet werden darf, auch ein SA-Führer Röhm nicht.[14]

Was der Medebacher Katholik A.G. ebenfalls mit Sicherheit gewusst hat:

Am 10. Juni 1933 „provozierten SA- und SS-Kolonnen schwere Zusammenstöße mit Teilnehmern des Kolpingtreffens in München, das schließlich abgebrochen werden musste, weil die Polizeibehörden die katholischen Gesellen vor der Gewalttätigkeit der nationalsozialistischen Schlägertruppe nicht schützen konnten oder wollten. Diese Ausschreitungen waren ein unübersehbares Vorzeichen dafür, dass ein systematisches Kesseltreiben gegen den politischen Katholizismus bevorstand, in dem die NS-Machthaber die Schwelle verbaler Drohungen und administrativer Pressionen überschreiten würden.“[15]

Der Kolpingverein, auch Gesellenverein genannt, war schon damals neben der Schützenbruderschaft die wichtigste und mitgliedstärkste gesellschaftliche Einrichtung in Medebach. Zweifellos war das schockierende Münchener Ereignis allen erwachsenen Medebachern bekannt und unter ihnen eine zeitlang wichtigster Gesprächsstoff. Es ist gut möglich, dass Medebacher Kolpingsöhne an dem Reichstreffen in München teilgenommen haben.

Selbstverständlich wusste A.G. von der Euthanasie und vom Widerstand wesentlicher Teile der katholischen Kirche gegen sie. Und selbstverständlich war er informiert über die Judenverfolgung – auch als direkter Zeuge: Am 10. November 1938, dem Tag des Pogroms an den Medebacher Juden, war er Lehrer an der dortigen Rektoratsschule. Seit 1933 hat er, wie jeder Deutsche, die täglichen Schikanen gegen die Juden, die systematische und niederträchtige Eskalation ihrer Entrechtung persönlich miterlebt, war zwangsläufig Zeuge der Demütigung und Entwürdigung seiner jüdischen Mitbürger durch die neuen Herren und ihre willigen Helfer in den deutschen Amtsstuben. Nikolaus Schäfers Dokumentation in „Jüdische Gemeinde Medebach“ beweist, dass dieser Zivilisationsbruch auch auf dem Lande vollzogen wurde, auch im katholischen Sauerland. Die Kälte und Zielstrebigkeit der Bürokratie, aber auch die sich hier widerspiegelnde Niedertracht ganz „normaler“ Bürger gehen unter die Haut, zum anderen widerlegt Schäfers Dokumentation das stereotype „Das haben wir nicht gewusst“ einmal mehr.

Vor diesem Hintergrund kann man dem Anton Grosche die Lobeshymnen auf Hitler und die Begeisterung für dessen Krieg nicht als „dem Zeitgeist entsprechend“ nachsehen. Dass er zum Schluss Medebachern gegenüber zu erkennen gab, dass er nicht zu den Durchhaltefanatikern und Wunderwaffengläubigen gehört, ist durchaus erwähnenswert, heilt aber sein Fehlverhalten keineswegs. Wie viel lieber wäre ihm der Sieg der Wehrmacht gewesen! Das hat er in seinen „Heimatgrüßen“ dutzendfach zum Ausdruck gebracht, ohne sich daran zu stören, dass dieser Sieg ausschließlich der Sieg der Nazi-Barbarei gewesen wäre.

Eine deutsche Disposition

Ich greife drei Passagen heraus, die Anton Grosches Disposition für solches Fehlverhalten bloßlegen. Einmal erinnert er sich an einen Franzosen, der während seiner Soldatenzeit in Frankreich, 1. Weltkrieg, die Sehnsucht nach Frieden zum Ausdruck brachte: „Malheur la guerre, pour nous, pour vous, pour tout le monde.“ Hier wäre für den Autor die Gelegenheit gewesen, ohne jedes Risiko einen Hauch von Friedenssehnsucht durch seinen Text wehen zu lassen. Statt dessen verhöhnt er chauvinistisch auftrumpfend den Franzosen (Folge 8, Juli 1940). Und an anderer Stelle, gegen Ende des Krieges, lässt er im Medebacher Schützenhaus die französischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter als „die Parlez vous“ „hausen“ (Folge 26, Nov. 1943).

Den Gipfel der Erbärmlichkeit, und auch der Peinlichkeit, bildet A.G.s Zitat der „humorvollen“ Spottverse auf die Russen (Folge 25, Mai 1943): „Dass der Landser aber bei diesem Leben noch Humor haben kann, das zeigt mir ein Gedicht, das einer der Euren nach hier geschickt hat … einige Verse möchte ich Euch aus diesem „Arbeiterparadies“ nicht vorenthalten.

In dem Land der Moskowiter, wo der Wodka schmeckt so bitter,
Wo die Nachtigallen schweigen, wo die bösen Mücken geigen,
Die dem Landser, wie die Läuse, Blut abzapfen literweise,
Wo das Huhn vom Teller pickt, unterm Tisch das Ferkel quiekt,
Wo die Leute wie Schlaraffen nachts auf ihren Öfen schlafen,
Wo man durch die Hand sich schnäuzt, wo Kathinka mich nicht reizt,
Weil sie allzu viel Begleiter in den Pelzen und so weiter,
Wo mich beißen Winterbeulen, wo jetzt noch die Wölfe heulen,
Wo die Partisanen strolchen mit Pistolen und mit Dolchen,
Wo ich Flöh und Wanzen fand, bin ich schon sechs Monde lang.
Und aus diesem Paradiese sende ich Euch viele Grüße.

Das Lachen und sich mit Humor über den trüben Tag hinweg setzen, habt Ihr also doch noch nicht ganz verlernt …“

Zu dieser Entblößung der eigenen moralischen und geistigen Niveaulosigkeit hat ihn wirklich niemand gezwungen, keine Nazityrannei und kein „Zeitgeist“, auch wenn diese Art deutschen Humors tatsächlich dem „Zeitgeist“ entsprach. So etwas Widerliches lesend, kommen in mir Gedanken auf wie: Diese „Herrenmenschen“ hatten sich ihre verheerende Niederlage gegen die „Untermenschen“ redlich verdient. Nein, ich kann mich nicht wirklich darüber freuen, dass Stalin bis an die Elbe gelangt ist. Aber dass Stalin sich bis zur Elbe durchsiegen konnte, das verdanken wir nicht Stalin, sondern dieser dummen deutschen Überheblichkeit, als deren Repräsentant sich A.G. drastisch zu erkennen gibt.

Umsetzung der Disposition

Zur Umsetzung dieser Disposition in offene Nazi-Propaganda einige Textproben:

„Nun wird bald auch die letzte große Schlacht gegen den Erzfeind England geschlagen. Wo immer es den Engländern und ihren Trabanten gelingt, in feigen nächtlichen Überfällen über deutschem Gebiet ihre Bomben abzuladen, da zeigen sie ihr wahres Gesicht. Aber wartet nur, Mister Eden, Churchill, Halifax, Chamberlain und all ihr Geistesverwandten, die Stunde der Abrechnung kommt; unser Führer hat´s gesagt und dann hilft kein Klagen und Zetern! Sorgt nur, dass Ihr sie drüben gleich beim Schlafittchen kriegt und dass sie nicht nach Kanada ausrücken!“ (Folge 9, Juli 1940).

„Meine lieben Kameraden, besonders die an der Ostfront! Während die Heimat um die Ernte bangte, habt Ihr im weiten Russland schon jetzt eine gewaltige Ernte eingebracht. Seit 25 Jahren lagert über Russland ein tiefes Geheimnis. Von der einen Seite wurde das Sowjetreich als ein Paradies dargestellt, von anderen Kennern des Landes als die Hölle. Heute wissen wir alle aus Darstellungen von berufener Feder und aus Euren schlichten Briefen, die zur Heimat gelangt sind: selbst die dunkelsten Schilderungen stehen hinter den tatsächlichen Verhältnissen zurück. Wehe uns, wenn diese entmenschten Horden über unser blühendes Vaterland gekommen wären! Dank gebührt unserem genialen Führer, der im letzten Moment die Gefahr gebannt hat; Dank einem jeden Kameraden von Euch, der unter restlosem Einsatz seiner Person, unter den ungeheuersten ganz unvorstellbaren Strapazen seine Pflicht getan hat. Doch ´Dank ist ein kaltes Wort´, wie Bismarck einmal gesagt hat; restloser Einsatz für diese Heimat, von der Ihr das drohende Ungewitter ferngehalten habt, das soll unser Dank an Euch, meine lieben Kameraden, sein.“ (Folge 20, Oktober 1941).

Weiter unten erfüllt der Autor die „traurige Pflicht“, den Tod dreier Medebacher „im Schicksalskampf gegen den Bolschewismus“ mitzuteilen: 21, 24 und 28 Jahre alt. Aber das war erst der Anfang. Ostern 1943 liest sich A.G.s Pflichterfüllung so: „Liebe Kameraden, eine ganze Reihe von Namen muss ich Euch melden von braven Kindern der Heimat, die ihre Treue zu Führer und Vaterland mit ihrem Heldentode besiegelt haben.“ Die folgende Liste allein für die Zeit seit Weihnachten 1942 umfasst zwölf Gefallene und drei Vermisste. Wie zu lesen, tat dieser Verlust Antons Kriegsbegeisterung und seiner Verehrung des „Führers“ keinen Abbruch. In den Berichten aus den anderen Orten des Amtes Medebach findet sich dergleichen Schwulst und Pathos nicht, die Trauer ist spürbar. So ging es also auch, und so wäre es auch für A.G. gegangen – wenn er es gewollt hätte.

Zunächst überrascht, dass sich in keinem von Anton Grosches Texten eine Spur von Antisemitismus findet. Hier ist er dem Zeitgeist offensichtlich nicht gefolgt. Möglicherweise hat er das Unmenschliche, Unchristliche, vielleicht auch das Unpatriotische der Judenverfolgung erkannt. Wahrscheinlich hat er sogar unter dem Unrecht gelitten, das den Medebacher Juden – alteingesessene Familien – angetan wurde. Für ihn waren wohl die jüdischen Mitbürger Teil seines geliebten Medebach, Teil von dessen Geschichte. Soldatisch denkend, spielte für ihn gewiss eine Rolle, dass aus fünf der sechs jüdischen Familien Soldaten des Weltkriegs kamen, einer von ihnen war 1916 an der Somme gefallen, mindestens ein weiterer wurde schwer verwundet.[16] Diese Leute hat A.G. mit Sicherheit hoch geachtet. Trotzdem hat er sich der nationalsozialistischen Kriegspropaganda angeschlossen, hat bewusst und ohne Not seine Fähigkeiten in ihren Dienst gestellt.

In das Charakterbild des Anton Grosche fügt sich passend ein, dass er in wirklich empörender Weise seine Kenntnisse als Geschichtslehrer missbraucht und demagogisch in den Dienst seiner Begeisterung für den Krieg der Nazis stellt:

„Gestern feierten wir, die Stadt Medebach, zum 304. Mal das ´Gelobte Fest´. … Und Frankreich hat die traurige Veranlassung zu diesem Festtag gegeben. Das habt Ihr vielleicht bisher nicht gewusst, aber dennoch ist es so. Im September 1634 waren die Schweden von des Kaisers Sohn, Ferdinand, und dem Grafen Gallas bei Nördlingen vernichtend geschlagen. Fast alle deutschen Fürsten, auch die protestantischen, schlossen darauf im Mai 1635 zu Prag mit dem Kaiser Frieden. Der Dreißigjährige Krieg war aus. Da warf Frankreich, das schon immer die deutschen Protestanten gegen den Kaiser unterstützt hatte, obschon es im eigenen Land keine Protestanten aus politischen Gründen duldete, die Maske ab und ließ seine Heere gegen den Rhein vorrücken. Noch 13 Jahre dauerte weiter das Morden und Rauben und Brennen, und d a s ist Frankreichs Blutschuld. Frankreich hat also auch das unsägliche Leid des Jahres 1636 über unsere Heimat gebracht.[17] Denkt daran, Ihr lieben Medebacher Jungen, dass Ihr mit den Franzosen noch ein Extra-Hühnchen zu rupfen habt.

Gleiches Los, wie damals, wäre uns in der Heimat und dem ganzen Deutschen Volke beschieden gewesen, – ihre führenden Männer haben´s ja oft genug in die Welt hinaus geschrieen, – wenn es unserem Führer und seiner starken Wehrmacht nicht gelungen wäre, die Heere unserer Feinde von den Marken des Reiches fernzuhalten.“ (Folge 8, Juni 1940).

Verdrängen, Verschweigen

Friedfertig war er nicht gerade, jedenfalls damals nicht, mein Geschichtslehrer über fünf lange Jahre. Aber auch später, als sein Schüler und Hörer seiner Reden am Denkmal für die Medebacher Gefallenen habe ich nie erlebt, dass er sich selbstkritisch zu seiner Haltung und seinem Tun während der Nazizeit geäußert hat. Seine Autorenschaft der „Heimatgrüße“ hat er verschwiegen, ich habe erst als schon sehr erwachsener Mensch durch den Nachdruck von ihrer Existenz erfahren. Ob er sich geschämt hat? Gezeigt hat er dieses Gefühl nie, eher das Gegenteil.[18] Der Volkstrauertag blieb in seinen Reden immer „Heldengedenktag“, sie klangen in meiner Erinnerung so, als wenn er die Toten der Befreiungskriege ehrt. Die Nazizeit kam in seinem Unterricht und in seinen Reden nicht vor, geschweige denn die Auseinandersetzung mit ihr. Wie fast alle, die damals erwachsen waren, hat er geschwiegen. Verdrängung, Scham, Trotz, wer kann das wissen? Die Mehrheit der Erwachsenen von damals hat ihr Leben unter dem Nationalsozialismus schlicht unter den Teppich gekehrt – und danach bruchlos die alten „Werte“ hochgehalten (als das wieder ohne Risiko möglich war).

Anton Grosche ist für mich Phänotyp jener „staatstragenden“ bürgerlichen Schicht, deren christliche und zivilgesellschaftliche Werte nicht verlässlich verwurzelt waren: Gewaltmonopol des Staates unter der Bedingung der Gewaltenteilung, Unantastbarkeit der Würde jedes Menschen, und daraus folgend anständiger, kultivierter, toleranter Umgang miteinander, sowie Rechtssicherheit für alle. Bürgerliches Individuum und bürgerlich geprägte Zivilisation hielten dem Ansturm der Barbarei nicht im geringsten stand.

Bezogen auf die industriell-rationale Vernichtung der Juden, nach dem Nachweis, dass diese nur durch das angepasste Alltagsverhalten der Deutschen (aber auch von Franzosen, Italiener, Polen usw.) möglich war, schreibt Baumann:

Besonders verhängnisvoll war, „dass sich die kulturell vermittelte Abneigung jeder Form von Gewalt gegenüber als unzureichender Schutzmechanismus gegen staatliche Gewalt erwies; zivilisiertes Verhalten bewies eine erstaunliche Anpassungsfähigkeit und Geschmeidigkeit gegenüber den Bedingungen des Massenmords. Der langwierige und oft schmerzvolle Zivilisationsprozess hatte keine einzige hundertprozent sichere Barriere gegen den Genozid errichtet. Die Mechanismen des Massenmords bauten auf dem zivilisierten Verhaltenskodex auf … Die Zivilisation war machtlos, als ihr das Furcht einflößende Macht- und Gewaltpotential, das sie selbst hervorgebracht hatte, entrissen wurde.“[19]

 

2010

[1] Auch mein Latein-, Geschichts- und Biologielehrer in Medebach 1949-1954, im Schülerjargon „Anton“, Autor zahlreicher heimatgeschichtlicher Werke. A.G. hat Generationen von Medebacher Oberschülern unterrichtet. Mein Vater, Conny Rempe, Nikolaus Schäfer, dessen Vater, mein Bruder und ich – wir alle waren Antons Schüler. Ich habe unter diesem Lehrer sehr gelitten. Er hat es aber wundersamerweise nicht geschafft, mir das Interesse und die Freude an dem Fach Geschichte auszutreiben. Anton Grosche. gilt heute als bedeutender Medebacher.

[2] Ferner, unter vielen anderen: W. Stresemann: Wie konnte es geschehen?; G. Bermann Fischer: Bedroht Bewahrt; M. v. Maltzan: Schlage die Trommel und fürchte Dich nicht; U. v. Kardorff: Berliner Aufzeichnungen; M. Degen: Nicht alle waren Mörder; K. Mundstock: Meine tausend Jahre Jugend; Inge Deutschkron u. Lukas Ruegenberg: Blindenwerkstatt Otto Weidt. Ein Ort der Menschlichkeit im Dritten Reich.

[3] Berlin, die Hauptstadt des Nazistaates, war auch die Hauptstadt des Widerstands gegen ihn. Nirgendwo in Deutschland hat es so viel aktiven Widerstand gegeben, nirgendwo forderte er so viele Opfer wie in Berlin. Nirgendwo wurden im Verhältnis so viele Verfolgte, vor allem Juden, versteckt wie hier, unter Lebensgefahr auch der Versteckenden. Nirgendwo sonst in Deutschland erzwangen Frauen mit einer öffentlichen Demonstration die Freilassung ihrer jüdischen Männer wie in der Berliner Rosenstraße. In keiner anderen deutschen Stadt oder Region konnte sich der Ungeist der Nazis so schwer im öffentlichen Raum, aber auch in vielen privaten Räumen durchsetzen, konnte das braune Milieu so wenig zum herrschenden Milieu werden wie in Berlin, und in keiner anderen Stadt wurde in der Kristallnacht die SA von einem Polizeioffizier daran gehindert, eine Synagoge niederzubrennen. Ein widerstandsfähiger Rest traditionellen preußischen Anstands und preußischer Toleranz, wie Reich-Ranicki für möglich hält? Oder einfach „Berlin – eine Stadt wie keine andere“ (Bernt Engelmann)? Aber auch in Berlin hat die Mehrheit weggesehen.

[4] Bürger Medebachs aus alteingesessener jüdischer Familie. Ganze sechs „Arier“ gaben ihm das letzte Geleit, sie wurden von Medebacher Nazis fotografiert. Nikolaus Schäfer: Die Geschichte der jüdischen Gemeinde Medebach. Von den Anfängen bis nach dem bitteren Ende. Schriften des Heimat- und Geschichtsvereins Medebach, Heft 10, 1990.

[5] Haffner nennt auch die Schuldigen: Ludendorff und der Generalstab. Treffend formuliert Blumenthal in Die unsichtbare Mauer, München 2000, S. 364: „Die schwerste Belastung aber war die unerbittliche Härte der Sieger. Ohne Rücksicht auf alle Vernunftappelle beorderten sie die Vertreter der Republik im Juni 1919 nach Versailles und zwangen sie, ihre Unterschrift unter den Entwurf eines Vertrages zu setzen, der in Deutschland enormen wirtschaftlichen und politischen Schaden anrichtete – und den Keim eines noch unheilvolleren Weltkriegs zwei Jahrzehnte später in sich barg. Für die Franzosen bedeutete dieser Vertrag die Rache für die ihnen zugefügte Demütigung in Versailles ein halbes Jahrhundert zuvor; in Deutschland sprach man dagegen nur vom Versailler Diktat. Dieser Vertrag war für die Weimarer Republik eine beständige schwere Bürde und untergrub letzten Endes ihre Lebensfähigkeit. Die großen territorialen Verluste und die erdrückende Last der Reparationszahlungen, die man Deutschland aufbürdete, waren schlimm genug, doch psychologisch gesehen war der ominöse Artikel 231, der Deutschland die alleinige Kriegsschuld zuwies, noch schlimmer.“

[6] Das von der Gedenkstätte Deutscher Widerstand Berlin 1995 herausgegebene Buch „Widerstand in Köpenick und Treptow“ enthält eine Darstellung dieser Verbrechen und ihrer Sühne nach dem Krieg.

[7] Robert Gellately: Hingeschaut und weggesehen. Hitler und sein Volk, München 2004, S. 87

[8] Ebd., S. 77 ff.

[9] Bert Hoppe: Der Terror kam aus der Mitte der Gesellschaft, Berliner Zeitung v. 7.5..2010

[10] „Geschäft wegen Preiswuchers polizeilich geschlossen. Geschäftsführer in Schutzhaft in Dachau. Der Politische Polizeikommandeur Bayerns, gez. Himmler“, Text der polizeilichen Versiegelung eines Lebensmittelladens in München (Mai 1933). Foto in Gellately, a.a.O.., nach S. 224

[11] Marcel Reich-Ranicki: Mein Leben, Stuttgart 1999, S. 152. Das Bezirksamt Berlin-Schöneberg ließ im Bayerischen Viertel an Laternen zahlreiche Tafeln anbringen, auf denen die einzelnen Maßnahmen gegen die Juden gut lesbar aufgeführt sind, mit genauem Datum der jeweiligen Maßnahme, beginnend im Frühjahr 1933. Hunderte Male bin ich durch diese Straßen gegangen oder gefahren. Ich kann nicht anders, als diese Texte jedes Mal aufs Neue zu lesen, jedes Mal mit dem Gedanken: Und niemand hat es gewusst!

[12] Vgl. Hafner: Die sieben Todsünden …, sowie ders.: Der Verrat, 2. Aufl. Berlin 1994

[13] Zygmunt Bauman: Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust, Hamburg 2002 (1992), S. 221.

[14] Eine Frage ist, inwieweit das Verhalten der katholischen Kirche und des politischen Katholizismus sowie die offensichtliche Sympathie einiger Bischöfe für das NS-Regime ein Verhalten wie das des Katholiken A.G. begünstigt oder überhaupt erst ermöglicht haben. Nachzudenken wäre vor allem über die Rollen des Franz von Papen, des Prälaten Kaas, der Bischöfe Bertram, Berning und Faulhaber sowie auch des Bischofs von Münster, Graf Galen, der kirchenöffentlich Hitlers Überfall auf die Sowjetunion begeistert begrüßt hat – unter ausdrücklicher Berufung auf den katholischen Glauben (Gerhart Binder: Irrtum und Widerstand. Die deutschen Katholiken in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, München 1968, S. 236 ff.). Genannt werden muss hier auch – last not least – das Konkordat zwischen Hitler und Pacelli vom 20. Juli 1933.

[15] Klaus Schönhoven: Der politische Katholizismus in Bayern unter der NS-Herrschaft 1933-1945, in: Martin Broszat und Hartmut Mehringer (Hg.): Bayern in der NS-Zeit, München/Wien 1983,

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[16] Schäfer: Geschichte der jüdischen Gemeinde Medebach, a.a.O.

[17] Zerstörung und Plünderung Medebachs durch schwedische und hessische Truppen, nicht durch französische, Gelöbnis der Bürger, jedes Jahr ein zusätzliches kirchliches Fest zu begehen.

[18] Zur Bedeutung von „moralisch läuternder Scham“, über das eigene Versagen, um „moralische Selbstverachtung“ zu überwinden und „die Mauern des psychischen Gefängnisses zu durchbrechen“, s. Bauman, S. 219 f.. Diesen Weg ging A.G. nicht. Sein Ausweg: Jähzorn und Alkohol.

[19] Bauman, S. 125 f.