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Mai | 2013

Wenn es ans Leben geht


Intensivstation

 

Aus einem Brief an einen guten Freund, der sich gerade mit Transzendenz und Sinnsuche beschäftigt:

Am 17. April erlitt ich unverschuldet einen schweren Fahrradunfall: Rettungswagen, Röhren, Intensivstation – gefährliche innere Verletzungen, vor allem an der Leber. Innere Blutungen, Not-OP wurde vorbereitet, es war inzwischen Nacht geworden. Zum Glück kamen die Blutungen zum Stillstand, ich wurde morgens auf die normale chirurgische Station verlegt, durfte aber drei Tage lang nichts essen und trinken, um OP-fähig zu bleiben. Ständige Sono- und Blutkontrollen.

Die Nacht auf der Intensivstation: Ich wusste, dass es meine letzte Nacht auf dieser Erde sein kann, eine Leber-OP ist äußerst riskant, die Chirurgen wollten auch nicht ran. So nah war mir der Tod noch nie. Noch immer bin ich darüber ein wenig erstaunt, aber auch erfreut, wie ruhig und gefasst ich war. Meine Sorge galt keinem Gott und keiner Sündenvergebung, der Kinder- und Jugendglaube stellte sich nicht einmal durch das Hintertürchen des Unterbewußten ein, ich blieb also ein Mann der Aufklärung. Meine Sorge galt Maria – und meine Trauer vor allem dieser Folge meines Todes: Ich kann nun mein Enkelkind Antonia nicht aufwachsen sehen.

Auch in dieser Grenzsituation schloss ich nicht aus, dass es etwas außerhalb der materiellen Welt gibt, und dass ich nach meinem Tod mit dieser anderen Welt etwas zu tun haben könnte. Aber mir war zweifelsfrei präsent, dass alles, was unsere Religionen, besonders die Konfessionen/Kirchen dazu zu sagen haben, bestenfalls Wunschdenken entstammt und somit keinen Erkenntniswert hat. Was nach dem Tod sein wird, ob es diese andere geistige Welt gibt, werden wir Menschen nie heraus finden, jedenfalls nicht vor dem Tod. „Offenbarungen“ aus dem Off hat es nicht gegeben und wird es nie geben.

Ich erlebte mich bei klarem Bewusstsein. Wenn ich in dieser Nacht sterben muss, verlasse ich eine Menschheit, der ich nicht helfen und Verhältnisse, die ich nicht verbessern konnte. Ich empfand den möglichen Abschied auch als Erleichterung und sogar als Entlastung. Mir selbst blieben dann Siechtum und entwürdigende Demenz erspart. Der Tod hätte auch sein Gutes.

So viel zum Thema Transzendenz.

Sinnsuche: Suche ich nach einem („höheren“) Sinn, unterstelle ich, dass ein Sinngeber existiert. Wer soll das sein? Der Schöpfer des Universums und damit des Lebens? Unendlichkeit des Raumes, Unendlichkeit der Zeit, was war vor Raum und Zeit? Wir werden das nie ergründen, gib Dir keine Mühe. Sollte ein Schöpfer, ein Geist (Hegel: Weltgeist) der Ursprung sein, so wird er sich wohl kaum dafür interessieren, ob wir freitags Fleisch essen oder nicht, ob wir sonntags in die Kirche gehen, ob wir in der Synagoge eine Kopfbedeckung tragen, ob wir in der Kirche die Kopfbedeckung abnehmen oder ob wir vor dem Betreten der Moschee die Schuhe ausziehen. Er wird Begriffe wie Unkeuschheit allenfalls von den Kirchen gelernt haben, die seine Kirchen nicht sind. Er wird sich möglicherweise noch nicht einmal dafür interessieren, ob wir „gut“ oder „böse“ sind, bzw. ob wir „Gutes“ oder „Böses“ tun. Sinn stiften allein unsere eigenen Maßstäbe, die wir uns ein Leben lang erarbeiten. Und die Liebe. Sie existiert – als Geschenk der Evolution (Jost Herbig: Die Evolution des Menschlichen). Ob und wie wir diese Fähigkeit in unserem Leben entfalten, ist unsere Entscheidung – im Rahmen gegebener Umstände, die wir aber verändern können. Aktives Gestalten unserer Lebensumstände wäre sinnvoll für uns und letztlich für alle Menschen, wenn es die Individuen und die Gattung Mensch in ein Leben abnehmender Entfremdung führt. Irgendwann bräuchten die Menschen dann nicht mehr nach dem Sinn des Lebens zufragen.

Die Morgensonne scheint in die Intensivstation, die Apparate, an die ich angeschlossen bin, haben keinen Alarm gegeben. Mein Leben scheint weiter zu gehen.

Bernd Schüngel
Berlin, 30. Mai 2013