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Januar | 2004

„Die Reformlüge“


Umverteilung von unten nach oben

 

Sozialpolitik – Verbreitete Ansichten

– Sozialstaat zu teuer
– Mißbrauch des Sozialsystems
– Wachstum löst alle Probleme
– Senkung der Lohnnebenkosten schafft Arbeitsplätze

Über diese Ansichten kann ich mich sehr ärgern und verliere in Diskussionen, aber auch im Gespräch mit Freunden gelegentlich die Kontrolle. Gegen diese Klischees hat sich in mir eine ziemliche Wut aufgebaut.

 

Sozialstaat zu teuer – leere Kassen.

„Wir können uns den Sozialstaat nicht mehr leisten.“ Deutschland erwirtschaftet sein höchstes Sozialprodukt aller Zeiten (preisbereinigt). Wieso kann sich dieses reiche Land Soziales, Kulturelles, Wissenschaftliches heute nicht mehr leisten, was in viel ärmeren Zeiten ganz selbstverständlich, und von den Interessengruppen akzeptiert, finanziert werden konnte? Der Anteil der angeblich explodierten Gesundheitskosten am BIP ist in den letzten Jahrzehnten nur marginal gestiegen, wo ist das Problem? Klar, die Gesundheitskosten sind zu hoch, effizienter Mitteleinsatz ist zu fordern, Reform des Kassenunwesens, vor allem eine grundsätzliche Neuorientierung der Kassen weg von der teuren Symptomkuriererei mit Hightech und Pharmaka hin zu mehr Prophylaxe und Prävention, zu vernünftigerer Lebensweise, und besseren Lebensbedingungen für Benachteiligte, mehr Schulsport, der den Kindern auch Spaß macht – besorgniserregende Zunahme übergewichtiger Kinder, wodurch den Krankenkassen schon jetzt und erst recht in der Zukunft immense Kosten entstehen. Warum machen die Parteien nicht genau das zum Thema ihrer „Gesundheits“politik?

Die Abschaffung des Solidarsystems ist weder notwendig noch ist sie die zieladäquate Antwort auf unsere Probleme: Erhalt u. Verbesserung des Gesundheitszustandes der Bevölkerung, dafür wählen wir doch die Politiker. Was sich geändert hat, ist die Zusammensetzung des Sozialprodukts: der Anteil der Löhne u. Gehälter ist gesunken, der Anteil der Unternehmergewinne, der freiberuflichen und Kapitaleinkünfte ist gestiegen. Also müssen wir, wie bei der Rente auch, die Finanzierung des Systems ändern, und nicht das System entkernen bzw. sogar abschaffen.

 

Mißbrauch des Sozialsystems

„Die Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger sind zum Großteil selber Schuld an ihrer Misere, und an der Misere unseres Landes.“ Hier könnte eigentlich der Verweis auf Michael Moores Film „Roger & Me“ genügen. Moore interviewt in Flint, wo fast jeder Mann und jede Frau direkt oder indirekt von GM lebte, GM-Managergattinnen auf dem Golfplatz, die den durch die GM-Verlagerung nach Mexiko arbeitslos Gewordenen besorgt empfehlen, sich mehr zu bemühen, sich mehr zu bewegen. Aber die Arbeitslosen haben Deutschlands Misere nicht produziert. Sie verfügen nicht über die großen hochtechnisierten und hochkonzentrierten Hauptproduktionsmittel der Wirtschaft, sie verfügen nicht einmal über die kleinen Produktionsmittel des Handwerks, sie verfügen nicht über die Immobilien und nicht über die Forschungskapazitäten unseres Landes, sie verfügen nicht über die Hunderte Milliarden des Finanzkapitals, sie sind es nicht, die im Monatsdurchschnitt 20–30 Tsd. Arbeitsplätze vernichten (lt. F. Merz), sie sind nicht verantwortlich für all die unwirtschaftlichen Fusionen und die sonstigen – auch noch hochvergüteten – Fehlleistungen der Spitzenmanager. Sie haben das skandalöse Toll-Collect-Fiasko nicht produziert, das dem Staat mal eben ein paar hundert Mio. € kostet. Sie sitzen in keinem Parlament und in keinem Kabinett und stecken sich dort die Taschen voll.

Die in Familien ohne Arbeitseinkommen hineingeborenen Kinder haben keine Chance in unserer Gesellschaft, auch wegen der sehr ungleichen Bildungsangebote nicht. Ihre Lebensperspektive mit hoher Wahrscheinlichkeit: Sozialhilfeempfänger.

 

Sündenbock Sozialhilfeempfänger

Der Sozialhilfeempfänger ist zum Sündenbock unserer Gesellschaft geworden, schuld an allen unseren Problemen, wie einstmals der Jude. Ein perfekt funktionierendes Ablenkungsmanöver derjenigen, die schuld sind, und sei es durch Unterlassen, ein klassisches „Haltet den Dieb“. Die breite Masse, durchweg Opfer der „Reform des Sozialsystems“ und – unmittelbar oder mittelbar – der euphemistisch Rationalisierung genannten Beseitigung von Arbeitsplätzen, fällt darauf herein. Jeder, der noch ein Arbeitseinkommen hat, scheint glücklich zu sein, daß es noch Leute unter ihm gibt, auf die er risikolos einschlagen und so seinen Frust, seine Angst betäuben kann. Der „Neger“, der es geschafft hat, dreifach Sozialhilfe zu kassieren, wird in der Presse breitgetreten, wird zum Thema an allen Arbeitsplätzen und in allen Kneipen. Jeder hat seinen Sozialhilfeempfänger oder Arbeitslosen, der sich „auf unsere Kosten“ einen bequemen Tag macht und sich einen Dreck um einen Arbeitsplatz bemüht, dem müßte der Roland Koch doch mal so richtig Beine machen (dürfen). Aber keinen von diesen Basisdemokraten, die sich auf sozialer Höhe wähnen, weil sie genau so klug daher reden wie die insgeheim bewunderten Manager und die Politiker, kommt auch nur auf die Idee, sich über die Steuerhinterziehungen der Reichen, über die Abfindung der Herren Esser, Sommer usw. zu empören, keiner fragt, zu wie viel Millionen/Milliarden Steuerhinterziehung wohl allein die Deutsche Bank ihren „Anlegern“ verholfen haben muß, um es zu einer 59-Mio.-€-Strafe wegen Beihilfe zur Steuerflucht zu bringen? Wer weiß heute noch, daß vor vier Jahren die Dresdner Bank wegen des selben Vergehens zu 37 Mio. € verurteilt worden ist?

Die Masse der kleinen Steuerzahler bestimmt nicht. Sie kommen, wenn sie Glück haben, per Einkommensteuer, und immer per Umsatzsteuer auf jeden ihrer Einkäufe für den von den Finanzjogleuren angerichteten Schaden auf. Von den so Geschröpften gibt es zur Zeit besonders viele in Berlin. Ab 2004 muß der Senat aus Steuermitteln jährlich mehrere 100 Mio. € garantierte Rendite an die Zeichner der „Sorglos-Fonds“ der landeseigenen Bankgesellschaft Berlin zahlen, deren Manager sich weiterhin hohe Gehälter genehmigen oder sich mit Riesenabfindungen und Pensionen aus dem Staub gemacht haben. Diese Stadt verkommt, es fehlt am Nötigsten, die Eltern müssen Schulbücher und notdürftige Renovierung von Schulen selbst bezahlen (die letzten Bundesländer führten in den 50er Jahren die Lehrmittelfreiheit ein – man vergleiche doch bitte das reale Sozialprodukt pro Kopf von damals mit dem von heute!), die Verwahrlosung/Verslumung nimmt sichtbar zu, Politiker sagen, man müsse in Zukunft wohl „Sozialbrachen“ in Kauf nehmen. Gleichzeitig werden den „Anlegern“ Steuergelder, die über seinen Konsum auch der Arbeitslose und der Sozialhilfeempfänger bezahlt, in den Grunewald getragen. Wo bleiben fundamentale Kritik und Empörung der Politiker, der Wissenschaftler, der Journalisten (es war ein amerikanischer Journalist, der den Berliner Bankenskandal aufgedeckt hat, Mathew D. Rose), der Gewerkschaften, der Kirchen – und vor allem der normalen Bürger?

 

Sündenbock Gewerkschaften

Der andere Sündenbock die Gewerkschaften. Die fordern höhere Löhne für Inflation und Produktivitätsgewinne. Eine Unverschämtheit, und eine gefährliche Unvernunft, sagen die „Eliten“ in Wirtschaft, Politik und Wissenschaft (die „5 Weisen“, die „führenden“ Institute, die Kommissionen der „Experten“). Und die Gewerkschaften fordern kürzere Arbeitszeiten – bei 5 Mio. Arbeitslosen und ständig steigender Produktivität tatsächlich eine bodenlose Unverschämtheit. Sie halten fest an Kündigungsschutz, Arbeitssicherheit, Gesundheitsschutz für die Arbeitenden, Tarifautonomie (übrigens sämtlich „Regulierungen“, die das Erwirtschaften unseres historisch einmaligen Wohlstands begleitet haben). Wollen die denn nicht sehen, wie „schlank“ die konkurrierenden Standorte produzieren? Löhne von unter 1 $ pro Tag, keine Pausen, kein Sozialklimbim und auch keine Umweltsentimentalität. Ein deutscher Bekleidungsunternehmer verlagert soeben seine Produktion nach Rumänien, weil dort die Personalkosten nur ein Sechstel der deutschen betragen. Das ist doch die globale Realität, mit der muß man sich abfinden, wie mit dem Wetter.

„Man“ muß sich eben nicht abfinden. „Man“ muß nicht die Personalkosten in der deutschen Bekleidungsindustrie auf – höchstens! – ein Sechstel drücken. Die Globalisierung ist das Produkt menschlicher Entscheidungen und kann somit grundsätzlich durch menschliche Entscheidungen bewußt menschengerecht gestaltet werden. Meine Gebetsmühle: internationale Standards für die Bereiche Entlohnung, Arbeitsbedingungen, soziale Mindestabsicherung, Umweltschutz, Besteuerung, Recht. International nicht durchsetzbar, sagen die „Realisten“. Woher wissen die das? Der Abbau von Handelsbarrieren war schließlich auch durchsetzbar, in jahrzehntelangen Verhandlungen, die ja noch immer nicht abgeschlossen sind und jetzt, nicht zum ersten Mal, in der WTO, über´s Ziel hinauszuschießen drohen: GATS. Bei der Liberalisierung ging es, weil der Wille vorhanden war. Internationale Standards wären ebenso durchzusetzen, sicherlich nicht von heute auf morgen, „man“ muß sie nur wollen. Aber genau da liegt das Problem.

An diesem Punkt haben die Gewerkschaften, nicht nur die deutschen, in der Tat Kritik verdient. Ihr Einsatz für weltweit respektierte politische Regulierungen zum Schutz der arbeitenden Menschen überall in der Welt ist mangelhaft. Bei aller Todfeindschaft zwischen den großen globalen Kapitalagglomerationen sprechen die Konzerne doch mit einer Stimme, wenn es um die Verweigerung der Menschenrechte, einschließlich der ökologischen, und um den Abbau nationaler und globaler politischer Gestaltung geht. Die Gewerkschaften dagegen holen ihren nationalen Arbeiter nicht etwa dort ab, wo er steht, um ihn auf die Position realistischer Interessenwahrnehmung zu hieven, nein, sie begeben sich auf dessen Position der Verunsicherung, verstärken seine Angst vor der internationalen Konkurrenz, indem sie sich abstrampeln, um die Interessen des deutschen Daimler-Arbeiters gegen die des italienischen Fiat-, des japanischen Nissan- des amerikanischen GM-„Kollegen“ durchzusetzen. Ist es Ironie der Geschichte, ein schlechter Witz oder schicksalhafter Zwang, dass in der Zeit wirkungsvoll globalisierten Kapitals die Vertretungen der Arbeit im nationalen Konkurrenzdenken stecken bleiben und damit gehorsam die ihnen in der Strategie des internationalisierten Kapitals zugedachte Rolle spielen? Es scheint, dass es noch nie in der Geschichte der Gewerkschaftsbewegung weniger internationale Kooperation gab als ausgerechnet jetzt.

Trotzdem werden die Gewerkschaften gebraucht, von allen, die nicht das Glück haben, ihr ganzes Leben unabhängig vom Marktgeschehen aus ihrem Vermögen frei gestalten zu können. Sie werden aber auch gesellschaftlich gebraucht, als Gegenmacht. Und gerade in dieser Zeit uneingeschränkter ökonomischer Macht und kaum eingeschränkter Deutungshegemonie des Kapitals bildet sich eine wachsende Masse von Menschen, die nichts besitzen außer einer speziellen Ausbildung und, wie sie glauben, den modernen Tugenden Flexibilität, Mobilität usw., Damit, bilden sie sich ein, könnten sie ihre Lebensinteressen allein gegen die globale Kapitalmacht durchsetzen! Sie treten aus der Gewerkschaft aus oder in sie gar nicht erst ein. Es muß für ihre Mehrheit ein böses Erwachen geben, es findet partiell bereits statt, wird aber kaum als das Ende des Traumes begriffen.

 

Wachstum! Wachstum! – Löst alle Probleme!

„Deutschland braucht dringend hohes und stabiles Wachstum, und zwar dauerhaft.“ Warum und wozu? An welchen Gütern fehlt es uns denn? Haben wir zu wenig Kartoffeln, zu wenig Milch, zu wenig Getreide? Fehlt es uns an Möbeln, Kleidung, Wäsche, Fernsehgeräten? Oder an Autos? An Benzin, an Strom? An Bier? Wo zum Teufel liegt der gravierende Mangel? Vielleicht bei Ziegelsteinen, Zement und Stahlträgern? Oder bei Handys, Kameras und Computern? Oder beim Papier für die Werbung? Ich finde einfach nicht heraus, was die Wirtschaftsverbände, Parteien und die „Experten“ meinen. Ich sehe überall eher Überkapazitäten und immense Lagerbestände. Ausnahmslos alle Branchen klagen über Absatzprobleme. Aber die Schichten, deren Güterversorgung weit unter dem Durchschnitt liegt, zunehmend bis hin zu echter Not, haben kaum Geld für Shopping, und dank der „Reformpolitik“ zunehmend weniger. Hätten sie es ab heute und würden alle auf einen Schlag in die Supermärkte und Kaufhäuser strömen, wäre das für Produktion und Handel kein Problem, höhere Auslastung der Kapazitäten, ein paar Überstunden würde genügen, um die zusätzliche Nachfrage in den Griff zu bekommen. Das hat die Wende bewiesen: 17 Mio. Konsumenten konnten von einem Tag zum andern mühelos mitversorgt werden.

Wir haben also, auch wenn Unternehmerverbände und „Weise“ gehirnwaschend seit Jahrzehnten das Gegenteil behaupten, ein Nachfrageproblem – und überhaupt kein Problem auf der Angebotsseite. Zaghaft klingt es ja inzwischen hier und dort (DIW) durch, daß die Binnennachfrage zu gering ist, bzw. ihr Anteil an der Gesamtnachfrage ist zu gering, dort herrscht die – in der Tat – gefährliche Dominanz des Exports. Abgesehen von der Frage, ob es sinnvoll, d.h., dem Wohlergehen unserer Gesellschaft förderlich ist, Jahr für Jahr, Jahrzehnt für Jahrzehnt, einen erheblichen Teil der hier produzierten Güter und Dienste ohne Gegenleistung in Form von dort produzierten Gütern und Diensten ins Ausland zu verfrachten , stellt sich hier doch wohl die Frage, ob die Kaufleute und Investoren im Ausland überhaupt rechnen können. Denn Deutschland hat doch, wie wir das ebenfalls seit Jahrzehnten täglich zu hören bekommen, als Standort längst den Anschluß verloren und ist international nicht mehr wettbewerbsfähig. Also, warum kaufen dann die Ausländer so viel bei uns, machen uns Jahr für Jahr zum „Exportweltmeister“ – sogar bei steigendem Euro? Unsere mit Riesenabstand Hauptkunden sind die anderen hochentwickelten Industrieländer!

 

Verfall der Infrastruktur

Doch in einem Bereich sehe ich ein Angebotsproblem, sogar einen erheblichen und äußerst folgenträchtigen Mangel auf uns zu kommen, wenn seine Beseitigung nicht zügig in Angriff genommen wird: Lebenswichtige Teile unserer Infrastruktur sind dabei, zu verrotten. Wie weiland in der DDR, von dort kennen wir auch die Folgen. Das Deutsche Institut für Urbanistik (Deutscher Städtetag) hat kürzlich eine Studie veröffentlicht: M. Reidenbach u.a.: Der kommunale Investitionsbedarf in Deutschland. Eine Schätzung für die Jahre 2000 bis 2009, Berlin 2002. Der akkumulierte Investitionsbedarf der Kommunen beträgt für die Jahre 2000 bis 2009 ohne irgendwelche Prestige- oder Luxusinvestitionen, also nur, um den Status quo zu halten, 686,20 Mrd. €! Hier brauchen wir dringend Wachstum, aber darüber reden die „Reformer“ nicht, im Gegenteil, da wird weiter gekürzt bis an die Grenze unserer Überlebensfähigkeit (und wahrscheinlich über diese Grenze hinaus). Das zusätzlich Verlockende ist, jedenfalls für Leute, die wirklich an der Reduzierung der Erwerbslosigkeit durch Schaffen neuer Arbeitsplätze interessiert sind, daß hier Branchen die Aufträge erhalten würden, die relativ arbeitsintensiv wirtschaften: Hoch- und Tiefbau, Handwerk, der ganze Bereich Sozialisation.

Wachstum als Selbstzweck, nicht als Mittel zum Zweck, das ist nicht nur der aktuelle neoliberale Mainstream, das entspricht der inneren Logik unseres Wirtschaftssystems. Erschreckend, wie sich dem alle unterwerfen, in keiner Zeitung, in keiner Talkrunde jemals die Frage, was denn eigentlich wachsen muß. Nach dieser fast ausnahmslos akzeptierten Logik darf unsere Gesellschaft keinesfalls die Kriminalität wirkungsvoll bekämpfen, denn diese schafft fast eine halbe Million Arbeitsplätze (habe das in meiner Dozentenzeit mal überschlägig berechnet), wir dürfen um Himmels Willen nicht unseren Müll reduzieren, träfen wir doch damit eine unserer erfolgreichsten Wachstumsbranchen. Wir dürfen auch unser Gesundheitssystem nicht im oben genannten Sinne umstellen, was würde aus den Arbeitsplätzen in Geräte- und Pharmaindustrie, (Privat-Kliniken, Arztpraxen und Apotheken? Bloß nicht gesünder werden! Und bloß nicht die Werbung eindämmen, „Keine Werbung“ am Briefkasten gefährdet Arbeitsplätze. Seien wir dankbar für die tägliche Papierflut! Und Augen zu vor dem damit verbundenen Ressourcenproblem. In Kanada werden Urwälder abgeholzt und das Holz wird an Ort und Stelle zu Zellstoff verarbeitet. Das geschieht täglich. Wälder weg, Flüsse versaut. Und die Indianer, die dort seit Urzeiten in Frieden und zufrieden leben, mit den Früchten aus Wald und Wasser, die müssen halt dem Fortschritt weichen – rein in Behelfssiedlungen am Rande der großen Städte, ohne Arbeit, ohne Einkommen, ohne Lebensinhalt: Alkoholismus. Fortschritt heißt hier Zellstoff für die Papierfabriken in Nordamerika, Eurpa und Japan. Deren zweitgrößter Kunde, nach der – ebenfalls überaus sinnstiftenden – Verpackungsindustrie: die Werbebranche. Diesen Industrien werfen wir menschliches Glück, Klimagleichgewicht und Artenvielfalt zum Fraß hin, und damit unsere Zukunft – die unserer Kinder und Kindeskinder! Ein System, das so wirtschaftet, hat offensichtlich einen Webfehler, und Leute, die das rechtfertigen, wegen der Arbeitsplätze oder wegen der „Freiheit des Wettbewerbs“, sind doch nicht ganz bei Trost.

Geplanter Verschleiß, gezielte Reduzierung der Lebensdauer von Produkten (geplante Obsoleszens), moralischer Verschleiß durch überstürzte Innovation (Computer), führe ich jetzt nicht aus.

 

Arbeitsplätze durch Wachstum?

Wachstum schafft Arbeitsplätze, das ist die populärste Rechtfertigung für das Wachstumspostulat und für dessen Priorität im politischen Zielbündel – eine populistische Rechtfertigung. Abgesehen davon, daß sich die Unternehmensleitungen nicht im Geringsten für „mehr Arbeitsplätze“ interessieren, sondern ausschließlich für Marktanteil/Gewinn/Aktienkurs und jederzeit bereit sind, immanent gesehen sogar sein müssen, Arbeitsplätze diesen Kennziffern zu opfern, führt Wirtschaftswachstum unter den heutigen technischen Bedingungen tendenziell genau zum Gegenteil, nämlich zum Verlust von Arbeitsplätzen. Wachstum entsteht durch Investitionen, und Investieren bedeutet heute Ersetzen einer alten Technologie durch eine neue, also Substitution von Arbeit durch Kapital (im Kapitalismus gab es diesen Trend schon immer, aber nicht in der heutigen Ausprägung, s. u.a. Jeremy Rifkin: Das Ende der Arbeit). Am Beispiel des deutschen Anlagen- und Maschinenbaus habe ich das einmal sorgfältig durchgerechnet.

Warum trotzdem dieses Wachstumspostulat und diese Hartnäckigkeit seiner Durchsetzung? Den großen Kapitalgesellschaften geht es um Kapitalverwertung, Jahr für Jahr muß mehr Kapital verwertet werden, neue Anlagesphären werden gesucht, z.B. im bisher öffentlichen Sektor (wieder: GATS). Und es geht dort auch um persönlichen Ehrgeiz der Topmanager und Großaktionäre. Die Nr. 1 sein wollen – das ist eine die Entscheidungen mitbestimmende Kraft.

Die Parteien haben ein Interesse an Wachstum und an Arbeitsplätzen, wegen der Steuern und Beiträge und wegen der Wahlen. Deshalb ist denen auch jedes Wachstum recht: Wenn die Kinder und viele Erwachsenen ihre blödsinnigen Handygespräche verdoppeln, wenn der Bundesbürger doppelt so lange wie bisher im Internet nach abnormen Websites sucht, wenn die Bevölkerung mehr „Alkohol konsumiert“ und mehr Pillen frißt (solange sie die selbst bezahlt), die Kinder sich noch mehr Süßes reinstopfen, wenn Klamotten nach ein-, zweimal Tragen in die Kleidersammlung wandern (besser in den Müll), ob wir uns mit noch mehr „Geschenkartikel“ gegenseitig anöden, ob durch noch mehr Einfamilienhäuser die Zersiedlung und der Flächenfraß weitergehen und dadurch der „Mobilitätsbedarf“, also vor allem die Produktion von Autos und Straßen, noch weiter steigt, oder ob sich die Leute Bücher, Fahrräder, Wanderschuhe, Bio-Kartoffeln kaufen, die Politiker sind hier leidenschaftslos, bringt das alles doch gleichermaßen Steuern in die Kassen. Weniger rauchen? Um Himmels Willen, das muß verhindert werden, indem die Tabaksteuer „behutsam“ erhöht wird; die „Elastizität der Nachfrage“ darf nicht überfordert werden. Nur Zynismus – oder Verbrechen, Frau Schmidt und Tabakindustrie, bei über 100.000 Todesfällen im Jahr? Auf jeden Fall strohdumm: bevor die Raucher sterben, gehen sie zum Arzt, zahlen keine Beiträge mehr, unterziehen sich aber sehr aufwendigen Therapien. Alkopobs für die Kids, der softe Weg zum lebenslangen Alkoholproblem – eine wunderbare Innovation, cool markliberal! In ihrer selbstverschuldeten Finanznot verdrängen die Politiker die Folgekosten, die ihnen daraus entstehen werden – soll doch damit die nächste Generation klar kommen! Sie brauchen freundlichere Statistiken jetzt, zu den öffentlichen Haushalten und zum Arbeitsmarkt, zumindest bis zur nächsten Wahl. Ob sie neue Arbeitsplätze durch Aufpäppelung dieses Konsummodells (neben der aktuell „Innovationsoffensive“ genannten Subventionierung neuer Produkte die Senkung von Steuern und Sozialabgaben, Zinssenkung, neues Insolvenzrecht usw.) bekommen werden, ist zweifelhaft, selbst wenn dieses Geld komplett in den Konsum flösse, vor allem wegen der Überkapazitäten. Erweisen sich bei einem – ziemlich unwahrscheinlichen – anhaltend steigenden Konsum die Kapazitäten als nicht ausreichend, wird eher die alte Kapazität durch eine Hightech-Anlage ersetzt, die mehr produziert – mit weniger Leuten, als daß eine neue Anlage zusätzlich gebaut wird. Mit der Wachstumspolitik alten Stils kann günstigstenfalls bei guter Konjunktur der weitere Anstieg der Arbeitslosigkeit gebremst werden.

 

„Die Senkung der Lohnnebenkosten schafft Arbeitsplätze“

Daß die Politiker sich nicht um die Struktur von Produktion und Konsum kümmern, kann ich, mich mit Marx, Engels und Max Weber in sie einfühlend, noch nachvollziehen, nicht aber ihren offensichtlich festen Glauben, daß ihr ganzer Sozialabbau die Arbeitslosigkeit tendenziell beseitigen und über dauerhaftes Wachstum die Sanierung der Staatsfinanzen einschließlich der Sozialkassen garantieren würde. Welcher Impuls ist von der Senkung der Lohnnebenkosten zu erwarten? „Drei Prozent weniger Lohnnebenkosten bedeuten über eine Dauer von zwei Jahren 550.000 Arbeitsplätze mehr. Die hohen Sozialausgaben sind die Achillesferse unseres Arbeitsmarkts“ (Bert Rürup). Dazu ein Blick auf die makroökonomische Größenordnung der Unternehmensbelastungen durch die Sozialversicherung. Im gesamten verarbeitenden Gewerbe betrug 1998 der Personalkostenanteil an dessen Bruttoproduktionswert 22,8% – mit abnehmender Tendenz (wegen des rasanten technischen Fortschritts, klar). Die Großunternehmen liegen deutlich unter dem Durchschnitt des verarbeitenden Gewerbes. Die in den 22,8% Personalkosten enthaltenen Sozialabgaben machen 3,5% des Bruttoproduktionswertes aus. Sänken diese Lohnnebenkosten um 3%, „dann reduzierte sich die Belastung um 3% von 3,5%, also um 1,17 Promille (!!). Bei voller Überwälzung auf den Preis würde ein Produkt, das 1000 € kostet, nur noch 999 € kosten. Wie können hiervon Beschäftigungseffekte ausgehen, gar ´über eine Dauer von zwei Jahren´ mehr als eine halbe Million neue Arbeitsplätze entstehen?“ (Hagen Kühn: Leere Kassen. Argumente gegen einen vermeintlichen Sachzwang, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 6/2003). Die tatsächliche Belastung der Unternehmen durch Personalkosten wird in den Lohnstückkosten ausgedrückt, die international gebräuchliche Kennziffer aus sämtlichen Lohnkosten, Arbeitszeit und Arbeitsproduktivität. „Die Lohnstückkosten sind in Deutschland laut Sachverständigenrat (2002/03) von 1995 bis 2001 um durchschnittlich (bei den Großen also um noch mehr, B.Sch.) 2,4% gesunken und damit um mehr als das Zehnfache der G7-Länder insgesamt (0,2%). Das sind unvergleichlich gewichtigere Entlastungen als die von Rürup genannten `drei Prozent weniger Lohnnebenkosten´ – ohne daß in diesem Zeitraum auch nur ein einziger zusätzlicher Arbeitsplatz zustande gekommen ist“ (Kühn, a.a.O.).

 

Beispiel Handwerksbetrieb

Aber wird nicht bei den arbeitsintensiveren kleinen Gewerbetreibenden, vor allem beim Handwerk, der Impuls für mehr Beschäftigung deutlich stärker sein? Wir rechnen das mal durch:
Das Unternehmen, das meine Heizung in Ordnung hält, berechnet mir für eine Arbeitsstunde rund 50 €. Der Monteur verdient brutto ca. 15 €. pro Stunde und hat Sozialabgaben von 21%, also 3,15 €. Der Arbeitgeber legt nochmals 3,15 €. drauf. Zusammen 6,30 €. Dieser Betrag entspricht 42% Lohnnebenkosten. Wir senken jetzt den Prozentsatz auf 40%. Macht genau 6 € Lohnnebenkosten.

Ergebnis: Das Unternehmen spart ganze 30 Cent Lohnnebenkosten. Für die Arbeitsstunde seines Monteurs könnte es mir jetzt statt 50 € lediglich 49,70 € berechnen. Ein 8-Std.-Tag bringt somit dem Unternehmen oder dem Kunden eine Ersparnis von 2,40 €.

Wir senken jetzt die Lohnnebenkosten auf 35% – Traumziel aller Parteien, vorläufig. Die Lohnnebenkosten betragen 5,25 €. und die Kosten für die Arbeitsstunde sinken auf 48,95 € . Bei 10 beschäftigten Arbeitnehmern macht die Differenz pro Stunde 10,50 € aus, pro 8-Std.-Tag für den Meister also eine Ersparnis von 84 €, pro 40-Std.-Woche von 420 €, pro Monat von ca 1.700 €. In etwa dafür könnte rein rechnerisch unser Handwerksbetrieb einen Arbeitnehmer zusätzlich einstellen. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, daß er es auch tut? Die neue Kraft müßte mit Arbeitsmitteln ausgestattet werden, möglicherweise bis hin zu einem zusätzlichen Monteurfahrzeug. Der Handwerksmeister müßte also investieren – auch in Kapital. Es entstehen laufende Kapitalkosten (Abschreibung und Verzinsung) als fixe, also vom Auslastungsgrad des Betriebs und des neuen Arbeitnehmers unabhängige Kosten. Bei der gegenwärtigen konjunkturellen Lage wird der Handwerker mit Investitionen, gelinde gesagt, sehr vorsichtig sein. Er wird die 1.700 € wohl eher als zusätzlichen Gewinn einstecken, ohne Risiko, und den Sozialabbau loben, vielleicht mit der Begründung, daß er ohne diesen einen Arbeitnehmer hätte entlassen müssen.

Nun müssen wir unsere Rechnung aber noch auf das Fundament des grundgesetzlichen Eigentumsschutzes stellen, wodurch die Erfolgsaussichten des Programms „Arbeitsplätze durch Sozialabbau“ weiter sinken, nämlich auf genau die Hälfte. Denn die Hälfte der soeben errechneten „Einsparungen“ gehört ja nicht dem Unternehmer, sondern dem Arbeitnehmer. Dieses Geld darf der Unternehmer ebenso wenig einbehalten wie eine Lohnsteuersenkung – es sei denn, wir verabschieden uns auch hier von der paritätischen Beitragsleistung. Jetzt stehen also unserem Handwerksmeister nur noch monatlich 850 € für die Aufstockung seines Personals zur Verfügung. Dafür gibt es nicht einmal bei Clement und Gerster einen qualifizierten Arbeitnehmer (noch nicht).

Nicht vergessen, die errechnete Ersparnis tritt ein bei einer Senkung der Lohnnebenkosten um 7%! Heute geht es aber lediglich um die Senkung der Abgaben für die GKV um ein halbes bis ein Prozent, wobei der Erfolg, wie bekannt, sehr ungewiß ist. Und dafür diese enorme Belastung der Versicherten, Kassen und Ärzte, dafür diese ganze zusätzliche Bürokratie! Dafür diese Verunsicherung der Menschen, die Steigerung ihrer Unzufriedenheit und Zukunftsangst! Worum geht es den „Reformern“ wirklich?

Unser Meister würde jedoch auf der Stelle seine Belegschaft vergrößern, wenn deutlich mehr Leute es sich leisten könnten, ihre verschlissenen Heizungsanlagen und Heizkörper auszuwechseln, wenn aus einer boomenden Baubranche heraus die Nachfrage nach diesen Produkten und Leistungen mit der Aussicht auf Dauer kräftig ansteigen würde, z.B. durch flächendeckende Renovierung von Kitas, Schulen und Universitäten.

 

Nachfrageproblem

Wie gesagt, wir haben ein Nachfrageproblem. Und Sozialabbau, Minilöhne, verweigerte Lohnerhöhungen verschärfen genau dieses Problem.

Hinzu kommt folgendes: Die ohnehin kaum meßbaren „Entlastungen“ der Unternehmen durch eine Senkung der Lohnnebenkosten werden im internationalen Wettbewerb schon durch den geringsten Kursanstieg des Euro gegenüber dem Dollar erheblich überkompensiert. Das volkswirtschaftliche Dilemma ist, daß die Finanzmärkte, warum auch immer, einen Sozialabbau mit höherer Nachfrage nach der Währung des „reformierenden“ Landes honorieren. Großbritannien hat mit seinem Pfund diese schmerzliche Erfahrung machen müssen – und stärkt inzwischen massiv seine Binnennachfrage.

 

Fazit

Die Reformpolitik der Regierung, ob Schröder/Fischer oder Merkel/Koch, wird unter dem Strich keinen einzigen neuen Arbeitsplatz schaffen. „Unter dem Strich“ heißt: beim Handwerk/Mittelstand mag der eine oder andere Arbeitssuchende zusätzlich eingestellt werden, etwa über das Programm „Kapital für Arbeit“, bisher übrigens ein Flop, der eine oder andere frisch Ausgebildete mag mangels Anstellung den Sprung in die Selbständigkeit wagen (ein Sprung ins Ungewisse, meist über Verschuldung), dieser (temporäre) Gewinn wird aber überkompensiert durch den Abbau bei den Großen. Der Trend ist vorgegeben durch den technischen Fortschritt, und dessen Form wiederum durch das Wirtschaftssystem, in dem er sich vollzieht: den Kapitalismus. Bezeichnend für das Niveau unsere gesellschaftlichen Debatte ist, daß sich kein Politiker und kein „führender“ Ökonom, und natürlich auch kein Topmanager, diesem Problem stellt: daß aus technischen Gründen, aus Gründen der explosiv gestiegenen und weiter steigenden Arbeitsproduktivität überhaupt nicht genügend Arbeitsplätze vorhanden sind, also unmöglich jeder Mensch erwerbstätig sein kann – solange wir unbelehrbar stur darauf beharren, die vorhandene Arbeit nach neoliberalen Marktgesetzen zu verteilen. Und so lange wir zunehmend nur solche Güter und Dienste produzieren, für die es einen privaten „freien“ Markt gibt.

 

Fußnoten

1 So unverdrossen mein verstorbener FU-Lehrer Carl Föhl, Unternehmer („mein Monopölchen“), bekennender Corpsstudent, „der deutsche Keynes“.

2 Neben Kanada werden für gleiche „Bedürfnisbefriedigung“ und für Wachstum zur Zeit zu Wüsten geholzt: neben den Tropenwäldern große Flächen Russlands, Skandinaviens, der USA Soeben höre ich in einem unserer noch verbliebenen niveauvollen Rundfunksender, daß auch das neoliberale Musterland Chile, dazu gestaltet durch Milton Friedmans höchstpersönlicher Kooperation mit Pinochet, erfolgreich dabei ist, seine einzigartigen (im Wortsinn) subtropischen Wälder für den Weltmarkt platt zu machen.

3 Berliner Zeitung , 19.12.03

4 ebetsmühlenhaft wird hier von der herrschenden Ökonomie mit der subjektiven Nutzenlehre der Neoklassik argumentiert. Diese „Theorie“ ist in ihrer heutigen vulgärökonomischen Anwendung tautologisch, apologetisch und empörend zynisch, aber nicht wissenschaftlich. Wer möchte, kann dieses Urteil nachvollziehen anhand meines Essays: Nutzen, Konsumtion und Gesellschaft. Zur Aktualität der Kritik der Grenznutzentheorie. Berlin 1977 (100 S.). Müßt Ihr aber nicht lesen. Wie der „souveräne Konsument“ dazu gebracht wird, Dinge zu kaufen, die er gar nicht braucht – worin die Werbung erklärtermaßen längst ihre wichtigste Aufgabe sieht -, kann Euch jeder Werbefuzzi sagen.

5 Nach Franz Neundorf u. Klaus Leiteritz (IG Metall), website.

 

Dezember 2003 / Januar 2004