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Mai | 2010

Vater der Mitbestimmung


Harald Koch

 

Harald Koch (1907–1992)

Liberalistisch in der Wirtschaft: nein, in allen anderen Lebensbereichen liberal: ja!
Harald Koch, 1986

 

„Sozialgemeinschaften“ statt Staatsmonopole

„Am 1. Dezember 1946 hat sich Hessen … seine Verfassung gegeben. Auf Grund besonderer Vereinbarung mit der Militärregierung wurde der Artikel 41 der Verfassung wegen seiner – man ist versucht zu sagen: geschichtlichen – Bedeutung der gesonderten Abstimmung unterworfen. Fast drei Viertel der abgegebenen Stimmen entschieden sich für den Artikel 41 und damit für die Verwirklichung der Sozialisierung.

Mit dem Inkrafttreten der Verfassung, dem 1. Dezember 1946, sind in Hessen vier Wirtschaftszweige – Bergbau, Eisen- und Stahlerzeugung, Energiewirtschaft, an Schienen und an Oberleitungen gebundenes Verkehrswesen – in Gemeineigentum überführt.“

Mit diesen Worten beginnt die Abhandlung „Von der Verfassung zum Gesetz“ des Ministers für Wirtschaft und Verkehr in Hessen, Harald Koch (SPD), aus dem Jahr 1948. Zu Recht vermittelt der Autor seine Freude und Genugtuung. Er hat, gerade 40-jährig, engagiert und mit hoher juristischer Kompetenz auf die Realisierung seines Modells der Sozialisierung hingearbeitet. Die Verstaatlichung der zu sozialisierenden Betriebe lehnte Koch entschieden ab: Unter keinen Umständen wollte er die privatwirtschaftliche Machtkonzentration durch Staatsmonopole ersetzen. Es gelang ihm, das hessische Kabinett sowie eine Mehrheit in den Parteien von der neuen Rechtsform der „Sozialgemeinschaft“ zu überzeugen. Die Sozialgemeinschaften sollen als rechtlich und wirtschaftlich selbständige Unternehmen arbeiten und zueinander und zu den privaten Unternehmen im Wettbewerb stehen. Staatliche Zuschüsse sowie ein Beamtenstatus für die Mitarbeiter sind explizit ausgeschlossen, so dass die vergesellschafteten Unternehmen zur betriebswirtschaftlichen Effizienz gezwungen sind. Zentrales Organ der Sozialgemeinschaft ist der „Verwaltungsrat“, dessen Mitglieder zu je einem Drittel von den Gewerkschaften, von dem Stadt- oder Landkreis und von der „Landesgemeinschaft der Sozialgemeinschaften“ berufen werden. Der Verwaltungsrat der Landesgemeinschaft seinerseits wird zu je einem Drittel vom Landtag, von den Gewerkschaften und von den Gemeindeverbänden beschickt. Er hat darauf zu achten, dass die Sozialgemeinschaften nach gemeinwirtschaftlichen Grundsätzen arbeiten und „dem Wohle des ganzen Volkes und der Befriedigung seines Bedarfs“ dienen (Art. 38 Verfassung Hessen). Eine Beteiligung der Arbeiter und Angestellten am Kapital der Unternehmen lehnte Koch ab: Er wolle nicht die Renditesucht weniger durch die Renditesucht aller ersetzen.

Am 25. Oktober 1950 verweigerte der hessische Landtag dem „Gesetz über die Sozialgemeinschaften“ mit Stimmengleichheit die Zustimmung. Ein Vierteljahrhundert später, beim Festakt des Hessischen Landtags zum 30. Geburtstag der Verfassung, kam Harald Koch auf diese Abstimmung zurück: „Damit war die Hoffnung, in Hessen ein Sozialisierungsmodell, etwas ganz Neues zu schaffen, zerschlagen. … Diesem Neuen stand das gesellschaftspolitische Klima entgegen, das sich – spätestens seit der Währungsreform und seit der Gründung der Bundesrepublik – grundlegend geändert hatte.“ Eine Wirtschaftspolitik war möglich geworden, „die zwar den forschen Schritt zu einer fast völlig freien Wirtschaft wagen konnte und wagte, aber im Strom eines ungeahnten Aufschwungs ihr Versprechen, sozial oder sozialverpflichtet zu sein, nicht einlöste. … Der vieldiskutierte Entwurf über die Sozialgemeinschaften hatte breiteste Zustimmung gefunden, weil er endlich einmal einen Weg zeigte, wie sozialisierte Unternehmen im Rahmen einer Marktwirtschaft hätten geführt werden können, ohne dass Staatskapitalismus die Folge wäre. Eine glückliche Synthese von Privateigentum und Gemeineigentum wäre möglich gewesen.“

 

Emanzipation des arbeitenden Menschen

Die Entwicklung Harald Kochs zum gefestigten Demokraten wurde nach eigenem Bekenntnis wesentlich von seinem Onkel Erich Koch-Weser beeinflusst, der als Liberaler mehreren Reichsregierungen der Weimarer Republik angehörte. Aber unübersehbar hatte der junge Harald schon sehr früh seinen ganz persönlichen Sinn für politische und soziale Gerechtigkeit. Im Niedergang und schließlichen Scheitern der Weimarer Republik erkannte er, dass die politische Demokratie ohne Demokratisierung der Wirtschaft ihren emanzipatorischen Anspruch nicht erfüllen kann und stets in Gefahr ist, das Opfer totalitärer Strömungen zu werden.

Vor den Vertrauensleuten der Westfalenhütte sagte er 1952: „Wir erinnern uns, dass in der Weimarer Republik die Forderung auf die Demokratie auch in der Wirtschaft unerfüllt blieb. Wir wissen – und die Erfahrungen aus der Zeit und dem Ende der Weimarer Republik haben es uns gelehrt -, dass die politische Befreiung des Staatsbürgers ergänzt werden muss durch die wirtschaftliche Befreiung des Wirtschaftsbürgers und dass nur sie beide – politische und wirtschaftliche Emanzipation – die menschliche Emanzipation ausmachen.“ Die Emanzipation des arbeitenden Menschen im Rahmen einer letztlich am Gemeinwohl orientierten Wirtschaft blieb Kochs vorrangiges politisches Thema und der Schwerpunkt seines Wirkens.

Harald Koch wurde am 4. März 1907 im Amtsverband Rüstringen (jetzt Wilhelmshaven) als Sohn des Rechtsanwalts und Notars Adolf Koch und dessen Ehefrau Elisabeth geboren. Nach dem Abitur an einem humanistischen Gymnasium begann er in Freiburg das Studium der Rechtswissenschaft. In seinem ersten Semester meldete er sich bei der Burschenschaft Alemannia aktiv. Im SS 1927 bekleidete er dort das Amt des Sprechers. Seine Referendarzeit leistete er in Oldenburg und in Rüstringen ab. Nach der Promotion 1931 und dem Assessorexamen 1934 nahm er ein weiteres Studium an der Handelshochschule Leipzig auf, das er 1939 als Diplom-Steuersachverständiger abschloss.

Die Aufnahme des Zweitstudiums war eine Reaktion auf die Übergabe der Staatsmacht an die Nationalsozialisten. Harald Koch musste von seinem Wunsch, im Kommunaldienst zu arbeiten, Abstand nehmen. Angesichts seiner politischen Einstellung schien es ihm auch nicht ratsam, sich als Anwalt niederzulassen.

Harald Koch ist nicht anfällig für die Ideologie der Nazis, geschweige denn für Karrierechancen innerhalb dieses Systems. Doch bezog er nach dem Bankrott des Regimes nicht die Position des moralisch Überlegenen. Um 1965 schrieb er:
„Selbst wenn man sich darauf berufen mag, dass jeder Widerstand, ja schon jedes unbedachte Wort sinnloser Selbstmord gewesen wäre – sinnlos weil ohne jeden Widerhall nutzlos! – so wird man doch – und jetzt spreche ich wohl nicht nur für mich – bis an sein Lebensende das Wissen nicht verdrängen können, dass man ein verantwortlicher Mensch war, als die Nazis, also deutsche Mitmenschen, Millionen wehrloser Menschen umbrachten und aus dem ganzen, dem großen, dem schönen Europa ein einziges Zuchthaus und schließlich ein unübersehbares Leichenfeld machten.“

Abgesehen von einem glücklich verlaufenen Intermezzo beim „Volkssturm“ in den letzten Kriegstagen blieb Harald Koch der Einsatz als Soldat erspart. „Vor der Uniform hatte mich trotz mehrfacher Musterungen ein schwerer Armbruch bewahrt; der krumme Arm erlaubte mir weder einen ordentlichen Hitlergruß noch ein soldatengerechtes Strammstehen. … Dem Fußballspiel sei Dank!“

 

Vom Flick-Manager zum Vater der Mitbestimmung

1940 fand Koch Anstellung als Prokurist bei der zum Flick-Konzern gehörenden Eisenerz-Gesellschaft Maximilianhütte in Sulzbach-Rosenberg/Oberpfalz. Später berichtete Koch, dass er in seiner Zeit bei Flick gelernt habe, was Konzernstrategie bedeutet und wie gefährlich diese unkontrollierte Konzentration wirtschaftlicher Macht ist. Er habe die extrem ungleiche Verteilung von Macht und Freiheit zwischen Aktionären und Management einerseits und den Werktätigen andererseits eindrücklich erlebt. Unmittelbar nach dem Krieg musste Koch gemeinsam mit einem weiteren Prokuristen die Leitung der Eisenerz-Gesellschaft übernehmen, da deren gesamter Vorstand und alle übrigen Prokuristen auf Befehl der Alliierten wegen ihrer Nazi-Vergangenheit entlassen wurden.

Vor einer sicheren Karriere bei Flick stehend, erreichte Koch der Ruf in die Regierung des gerade entstandenen Landes Oldenburg. Er wurde Minister für Wirtschaft und Finanzen. Seine vordringlichste Aufgabe war die Linderung der Not der Bevölkerung. In nicht immer konfliktfreier Kooperation mit der britischen Militärverwaltung gelang es Koch und seinen Kollegen, den Kollaps des öffentlichen und zivilen Lebens zu verhindern.

Inzwischen war Harald Koch Mitglied der SPD geworden. Als das Land Oldenburg 1947 im Land Niedersachsen aufging, berief ihn seine Partei als Minister für Wirtschaft und Verkehr nach Hessen. 1949 wechselte er als Abgeordneter des Wahlkreises Offenbach in den ersten Deutschen Bundestag. Auf Vorschlag des DGB wurde er 1952 zum Arbeitsdirektor der Hoesch Werke AG berufen. Nach der Fusion von Hoesch mit der Dortmund-Hörder Hüttenunion AG 1966 wechselte er als stellvertretender Vorsitzender in den Aufsichtsrat, dem er bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand 1972 angehörte.

Nachdem die Sozialisierung in Hessen und damit auch im gesamten Bundesgebiet gescheitert war, versuchte Harald Koch sich über die Mitbestimmung seinen Zielen Emanzipation des arbeitenden Menschen und sinnvolles, am gesellschaftlichen Wohl orientiertes Wirtschaften anzunähern. Er gilt als Vater des Montan-Mitbestimmungsgesetzes von 1951. Er trug die aktive Konjunktur- und Investitionspolitik des Staates in den 60er und 70er Jahren mit, auch als Mitglied des „Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“ (die Fünf Weisen) von 1964 bis 1969.

Harald Koch übte zahlreiche ehrenamtliche Tätigkeiten aus, besonders währen des Ruhestands, unter anderen im Kuratorium der Sozialforschungsstelle Dortmund, als Vorsitzender der Rheinisch-Westfälischen Auslandsgesellschaft und in Gesellschaften für die deutsch-sowjetische und die deutsch-französische Verständigung.

1969 wurde Harald Koch mit dem Großen Bundesverdienstkreuz mit Stern ausgezeichnet. 1981 folgte die Verleihung der Ehrenbürgerschaft der Stadt Dortmund, 1986 das Ehrenzeichen des Verbandes der sowjetischen Gesellschaften für Freundschaft und kulturelle Beziehungen mit dem Ausland, 1987 der Verdienstorden des Landes NRW und 1991 der Hans-Böckler-Preis des DGB.

 

Bergpredigt und Sozialismus

In seiner Dankesrede beim Empfang der Stadt Dortmund zu seinem 85. Geburtstag am 7. März 1992 bekannte sich Harald Koch ein letztes Mal öffentlich zu seiner Idee des Sozialismus: „Warum wird in der Öffentlichkeit immer wieder der Unterschied verwischt, der zwischen meinem Begriff eines humanen, demokratischen, christlichen Sozialismus und dem abgewirtschafteten so genannten ,Realsozialismus‘ besteht? Ich empfinde das als Ausdruck einer unchristlichen Bösartigkeit.“

Ein halbes Jahr später, am 18. September 1992, schloss Harald Koch für immer die Augen. Sein Streben nach Gerechtigkeit und Mitmenschlichkeit kommt treffend im folgenden Zitat zum Ausdruck: „Nun geben die mit nichts in der Weltliteratur vergleichbaren Worte der Bergpredigt bestimmt keine Regeln für die tägliche Praxis, aber doch einen Maßstab für das politische Handeln. Wir wollen Verhältnisse anstreben, in denen ein Leben nach der Bergpredigt im Rahmen des Möglichen liegt, in dem Freundschaft und Liebe zu ihrem Recht kommen, in dem der Kampf aller gegen alle zu einer überwundenen Zeitgeschichte gehört, in dem endlich das Wort – von keinem geringeren als Karl Marx – für alle gilt: ’Die freie Entwicklung eines jeden ist die Bedingung für die freie Entwicklung aller’. Hierfür einzutreten und hierfür das Seine zu tun, ist eine Aufgabe, die das Leben lebenswert macht.“ (1986).

Harald Koch blieb bis zu seinem Tod aktives Mitglied der Freiburger Burschenschaft Alemannia. Unvergessen bleibt allen Teilnehmern des 112. Stiftungsfestes Haralds Festrede, in der er eine engagierte gesellschaftliche Betätigung der Aktivitas einschließlich dauerhafter Beziehungen zum Ausland, vor allem zum benachbarten Frankreich, forderte. Nur hiermit könne die Lücke gefüllt werden, die durch die – von ihm begrüßte – Aufgabe des Fechtens entstanden sei.

 

Leicht überarbeitet aus „1860-2010. Lebensbilder aus 150 Jahren Burschenschaft Alemannia Freiburg“, Hg. Albrecht Winnacker, Günther Voß, Jürgen Frantz, Privatdruck 2010