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Februar | 1990

Ursachen für den


Zusammenbruch des „real existierenden Sozialismus“

 

In den Ländern des „real existierenden Sozialismus“ (RES) war und ist die Demokratie in Theorie und Praxis extrem unterentwickelt. Die Erkenntnisse und politischen Erfolge des Jahrhunderte langen Kampfes fortschrittlicher Menschen und Klassen für die Emanzipation der Menschheit wurden für die Entwicklung der Gesellschaften mit sozialistischem Anspruch nicht genutzt. Im Ge-genteil: Diejenigen, die Aufklärung, Humanismus und den Wert des Individuums sowie die konkreten Errungenschaften des revolutionären Bürgertums wie Gewaltenteilung, Rechtssicherheit einschließlich festgeschriebener Rechte des Individuums gegenüber dem Staat, Meinungs-, Informations- und Versammlungsfreiheit, Toleranz gegenüber den Anhängern anderer humanistischer Weltanschauungen und von Religionen im So-zialismus erhalten und weiter entwickeln wollten, wurden als Konterrevolutionäre und Staatsfeinde kriminalisiert.

Für die Entwicklung des Sozialismus permanent unabdingbare Elemente wie wissenschaftliche Analyse der Gesellschaft, Kritik und Diskussion pervertierten zu Ritualen der Herrschaftssicherung und -rechtfertigung.

Die Zerstörung der demokratischen und humanen Errungenschaften der bürgerlichen Gesellschaft basierte nicht auf einem philosophischen Irrtum oder einer politischen Fehleinschätzung, sondern wurde von einer Minderheit, den Parteiführungen, gezielt und systematisch zur Festigung und Perpetuierung ihrer Herrschaft über die gesamte Gesellschaft vollzogen.

Dem entspricht auf ökonomischer Ebene die äußerst schädliche Vernichtung der selbständigen Existenzen im Handwerk, im Handel, bei den Dienstleistungen und den freien Berufen sowie von privaten kleinen und mittleren Industriebetrieben. Diese Politik führte zu der – offensichtlich gewollten – unmittelbaren ökonomischen Abhängigkeit fast aller Individuen von Staat und Partei.

Das charakteristische Merkmal des politischen Systems war die Allmacht des Staates, wesentlich basierend auf riesigen, die Volkswirtschaft stark belastenden „bewaffneten Organen“ einschließlich einer flächendeckenden Geheimpolizei. Der Staat seinerseits war ein Instrument der kommunistischen Partei, deren Hauptmerkmal das Fehlen demokratischer Willensbildung war und die zentralistisch von einer kleinen, sich ausschließlich nach den eigenen Maßstäben und durch eigene Entscheidungen regenerierenden Führung beherrscht wurde.

Der Gegensatz zwischen sozialistischer Legitimation und undemokratischer, parasitärer Herrschaft führte zu einem sich zeitweilig geradezu pathologisch ausnehmenden Misstrauen der Herrschenden gegenüber den Beherrschten, das sich nicht nur in der bis zur Absurdität perfektionierten Bespitzelung sondern auch in der Disziplinierung, Gängelung und Bevormundung der Menschen in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens ausdrückte. Diese Entmündigung schuf bei vielen Menschen scheinbare Akzeptanz nach außen und ohnmächtige Wut und Zynismus nach innen.

In der Ökonomie wirkte sich die Entmündigung der Arbeitenden extrem kontraproduktiv aus: Ständig gedemütigte Produzenten können die modernen Produktivkräfte und die für ihre Entfaltung notwendigen Organisationssysteme weder entwickeln noch beherrschen.

Unter den Bedingungen zentralistischer bis diktatorischer Administration in allen Bereichen der gesellschaftlichen Reproduktion konnte sich bei den Produzenten kein Eigentümerbewusstsein entwickeln. Es wäre auch falsches Bewusstsein gewesen, denn Eigentümer an den Produktionsmitteln war der Staat. Staatseigentum bedeutet immer Privateigentum des Staates. Die faktische Staatsmacht war bei wenigen Führern konzentriert, die exklusiv über die Investitionen und damit über die Zukunft der Gesellschaft bestimmten.

Die Wirtschaftspolitik dieser Machteliten zeichnete sich in folgenschwerem Umfang durch die Missachtung der stofflichen, gesellschaftlichen und menschlichen Realitäten aus. So wurden angesichts der wissenschaftlich-technischen Revolution in den Zentren des Imperialismus, von den Parteiführungen Richtung und Tempo der Produktivkraftentwicklung unter Missachtung der realen Gegebenheiten und Möglichkeiten beschlossen und der Wirtschaft kommandiert.

Aus solchen Verhältnissen konnte kein spezifisch sozialistisches Ziel des Wirtschaftens, kein sozialistisches Konsummodell, kein alternativer Wachstumsbegriff und keine an diesen orientierte Produktivkraftentwicklung und Produktionsstruktur entstehen. Die Führungen propagierten das Nachahmen des Imperialismus und versuchten, die Produktivkräfte auf dieses Ziel hin zu entwickeln, ohne jedoch die ökonomische Effizienz bedingenden Mechanismen und Strukturen des Imperialismus (Hebel: Belohnung und Bestrafung, Entscheidungshierarchie, Steuerung: Preissystem, unabhängige Kapital- bzw. Geldsammelstellen, konvertible Währung u.a.) zu übernehmen, denn damit wäre jede Legitimation für die eigene totale Herrschaft entfallen. Folgerichtig vergrößerte sich seit Beginn der technischen Revolution in den Zentren des Kapitals der technologische Rückstand des RES in atemberaubendem Tempo. Es kam zu einer fast grandiosen Überlegenheit des Kapitalismus nicht nur im Bereich des individuellen Konsums sondern auch auf dem Felde klassischer realsozialistischer Vorteile (Gesundheitssystem, Ausbildung, Verkehrswesen etc.). Außerdem bietet der Imperialismus einem erheblichen Teil der Arbeitenden bessere organisatorische Arbeitsbedingungen, größere Möglichkeiten für die Entfaltung der Kreativität und mehr Anerkennung für Leistung.

Da dieses Auseinanderklaffen der beiden letztlich am selben Wachstumsbegriff und am selben Konsummodell orientierten Wirtschaftssysteme vor den Massen im RES nicht länger verheimlicht werden konnte (und von den Führungen durch die Verbreitung der verhängnisvollen Devisenläden selbst eingestanden wurde), fiel die Akzeptanz des eigenen Systems in dem Maße, wie diejenige des Imperialismus stieg.

Rede vor Funktionären und kritischen Mitgliedern der SEW, 12. Februar 1990