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Mai | 2019

Unser Wohlergehen in den vergangenen 70 Jahren


Gnade, Glück oder Vernunft?

 

Ein hoher protestantischer Geistlicher sagte mir, das Wohlergehen von uns Bürgern dieses Landes nach dem Zweiten Weltkrieg sei möglicherweise auch eine Gnade Gottes. Darüber habe ich mir den Kopf zerbrochen, mit folgendem Ergebnis:

Unser Wohlergehen in den vergangenen 70 Jahren hat empirisch belegbar folgende reale, rein diesseitige Ursachen:

1. Starthilfe und weitere Finanzierung von Investitionen durch den Marshall-Plan (USA), sowie durch den Verzicht der Alliierten (nach anfänglichen Demontagen) auf Reparationen.

2. Die gnadenlose Ausbeutung der Dritten Welt durch die kapitalistischen Industrieländer. Dazu verfüge ich über fast unendlich viel Material.

3. Die kluge Politik unserer Regierungen, aber auch der Gewerkschaften in den 1950er, 60er und 70er Jahren, z.B. Dynamisierung der Renten, Erhaltung der Lohnquote, Ausbau der Infrastruktur.

4. Die hohe Qualifikation der arbeitenden Menschen, deren Reproduktion durch gute, staatliche bzw. staatlich vermittelte Ausbildung (z.B. duales System bei Facharbeiter-Ausbildung).

5. Eine insgesamt günstige Weltwirtschaft mit wachsender Nachfrage nach deutschen Maschinen, Nutzfahrzeugen und Anlagen, nach deutscher Chemie, also nach Produktionsmitteln – auf der Basis international hoch geschätzter deutscher Vertragstreue und Zuverlässlichkeit. Dazu stets billige Rohstoffe aus der Dritten Welt.

Diese erfreuliche Entwicklung, einmalig in unserer Geschichte, konnte natürlich nur stattfinden im Frieden. Der Frieden war manchmal gefährdet, aber die große Katastrophe trat nicht ein. War dieser Frieden vielleicht ein Geschenk, eine Gnade Gottes? Ich beschäftige mich seit Beginn meines Ruhestands systematisch mit Geschichte. Dabei ist mir Gott leider nicht als gnädiger Friedensstifter und noch nicht einmal als Friedensfreund aufgefallen, eher im Gegenteil. Georg Elser, Kordt/Oster, von der Schulenburg, von Weizsäcker, Henning von Tresckow, von Gersdorff, Axel von dem Busche, Ewald Heinrich von Kleist, Stauffenberg. Es ging um die Verhinderung von insgesamt etwa 55 Millionen Kriegs- und Vernichtungsopfern im Zweiten Weltkrieg. Wie viele Kinder befanden sich darunter?

Hitler nannte es „Vorsehung“.

Was den Frieden in unseren guten 70 Jahren betrifft, denke ich an die Kuba-Krise. Ich habe die Protokolle der damaligen Sitzungen des US-Sicherheitsrates gelesen. Dass es nicht zum Krieg kam, verdanken wir auf US-Seite der Klugheit und Besonnenheit von Robert McNamara und von Robert Kennedy. Wenn Christen sagen, sie seien von Gott gelenkt worden, und dass Präsident John F. Kennedy auf sie hörte, sei auch die Gnade Gottes gewesen (und dass Chruschtschow einlenkte, ebenfalls), kann ich nicht widersprechen. Ich glaube es nicht. Ich glaube auch nicht, dass Oberstleutnant Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow von Gott gelenkt wurde, als er unter extremen Druck am 26. September 1983 die richtige Entscheidung traf.

Ich bin der Meinung, dass wir Menschen für den Frieden selber sorgen müssen. Es gibt gegenwärtig eine Menge Anlass, tätig zu werden. Ich mache mir Sorgen.