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März | 2014

Unmittelbar nach dem 30. Januar 1933


Nazi-Terror

 

Zu dem dankenswerterweise von Bbr. Melchinger und von der Redaktion im Nbl. 2/2014 veröffentlichten Artikel aus den Badischen Neuesten Nachrichten zunächst eine Ergänzung zur brutalen Absurdität des Rassenwahns: Der badische SPD-Landtags- und Reichstagsabgeordnete Ludwig Marum galt den Nazis als Jude, obwohl er bereits 1910 aus der jüdischen Gemeinde ausgetreten war und sich der Freireligiösen Gemeinde Karlsruhe angeschlossen hatte. Den Nazis genügten Vorfahren jüdischen Glaubens, um einen Menschen als Juden zu stigmatisieren – mit den bekannten Folgen. Man stelle sich vor, der Staat würde Bürger, die keiner Religionsgemeinschaft angehören, die aber irgend welche lutherische, katholische, muslimische Vorfahren haben, als Lutheraner, Katholiken, Muslims klassifizieren und sie zwingen, sich selbst als solche zu kennzeichnen.

Da unter uns Alemannen nur noch wenige sind, die den Nationalsozialismus bewusst erlebt haben, möchte ich auch Bbr. Melchingers Satz unter dem Zeitungsbericht korrigieren. Hannes schreibt, dass das Nazi-Terrorregime „schon ein Jahr nach der Machtübernahme … sein wahres Gesicht“ zeigte. Die Nazipartei und ihre SA zeigten aber ihr wahres Gesicht durch zahlreiche Verbrechen und durch ihre aggressive antisemitische Propaganda bereits bevor ihnen die Macht vom Reichspräsidenten Hindenburg auf Drängen nationalistisch-konservativer Kreise um Hugenberg und von Papen übergeben wurde. Sofort nach dem 30. Januar 1933 begannen sie mit atemberaubender Geschwindigkeit und Zielstrebigkeit, ihre Diktatur zu errichten und unumkehrbar zu festigen:

– Im Februar 1933 machte Göring 40.000 Rabauken aus der SA und SS zu Hilfspolizisten mit dem Recht, Staatsgewalt unter Anwendung „schärfster Mittel“, das heißt, mit Schusswaffengebrauch, auszuüben.

– Die Organisationen der politischen Gegner wurden schon im Frühjahr 1933 verboten: KPD, SPD, Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold und die Gewerkschaften. Viele ihrer Funktionäre wurden verhaftet, einige ermordet. Es „war der Beginn des Staatsterrors, der bald nicht mehr spontan, sondern mit Hilfe eines immer weiter perfektionierten Unterdrückungsapparats ausgeübt wurde“ (Benz).

– Bei dem vom nur eingeschränkt frei gewählten Reichstag am 23. März 1933 verabschiedeten „Ermächtigungsgesetz“ handelte sich um eine Blankovollmacht für die Regierung Hitler und somit um das Außerkraftsetzen der Weimarer Verfassung. Allein die 94 Abgeordneten der SPD stimmten dagegen, die 81 Abgeordneten der KPD durften den Reichstag gar nicht erst betreten, viele von ihnen saßen bereits in Konzentrationslagern. Die Abgeordneten der beiden katholischen und der liberalen Parteien stimmten dem „Ermächtigungsgesetz“ zu. Diese Parteien wurden bereits Ende Juni/Anfang Juli 1933 von den Nazis gezwungen, sich selbst aufzulösen.

– Von der NS- und Staatsführung angeordneter gewalttätiger Boykott gegen „jüdische Geschäfte, jüdische Waren, jüdische Ärzte und jüdische Rechtsanwälte“ im gesamten Reich am 1. April 1933. Leo Baeck, Sprecher der liberalen deutschen Juden: „Die tausendjährige Geschichte des deutschen Judentums ist zu Ende!“

– „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933. Politisch unliebsame Beamte, vor allem Sozialdemokraten und andere engagierte Anhänger der Weimarer Republik und Juden – wer als Jude galt, bestimmte allein der Nazi-Staat – wurden aus dem gesamten Öffentlichen Dienst entfernt.

– Am 10. Mai 1933 fanden in vielen Universitätsstädten öffentliche Bücherverbrennungen „wider den undeutschen Geist“ statt.

Unter den vielen, von der SA im ganzen Reich unmittelbar nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler begangenen Verbrechen und Übergriffen – alles als solche erkennbare schwere Rechtsbrüche – greife ich die „Köpenicker Blutwoche“ heraus. Anhand vorbereiteter Listen drangen in der Nacht vom 21./22. Juni 1933 SA-Horden in die Wohnungen von Sozialdemokraten und Kommunisten ein, verschleppten, folterten und ermordeten sie. Die Leichen fanden Bürger in den Folgetagen im Fluss Dahme treibend. Sowohl die Nazi- wie auch die noch nicht gleichgeschaltete Presse berichtete darüber (Wörmann).

Jeder erwachsene Deutsche, der nicht absichtlich seine Augen verschloss, wusste, dass die Nazis sofort nach dem 30. Januar 1933 ohne Rechtsgrundlage zunächst Gefängnisse und dann Konzentrationslager einrichteten und dort viele ihrer Gegner ohne richterlichen Haftbefehl eingesperrt hielten. „Die Zahl der illegalen `Verhaftungen` belief sich in Preußen bis Ende April 1933 auf bis zu 30 000. In Berlin gab es in den kommunistischen und sozialdemokratischen Arbeitervierteln über 100 improvisierte Folterkammern“ (Gellately). Um ihre Gegner einzuschüchtern, haben die Nazis sogar gezielt dafür gesorgt, dass die Bevölkerung vom Terror gegen Andersdenkende und Juden und von der Existenz der illegalen Lager Kenntnis erhält (Gellately). „So berichtete der Berliner Rundfunk schon im Mai 1933 ausführlich und live über eine Razzia in der nahe der Volksbühne gelegenen Grenadierstraße, die sich in erster Linie gegen die dort lebenden Kommunisten und aus Osteuropa eingewanderten jüdisch-orthodoxen Bewohner richtete“ (Hoppe). Für die in den ersten Monaten nach ihrer „Machtergreifung“ an Zehntausenden von Bürgern begangenen Straftaten der Freiheitsberaubung, der Körperverletzung, des Totschlags und des Mordes erfanden die Nazis zynisch die Bezeichnungen „Schutzhaft“ und „auf der Flucht erschossen“, die der gesamten Bevölkerung in ihrer realen Bedeutung geläufig waren.

Aber die Mehrheit der Bürger störten die Verfassungsbrüche des NS-Staates nicht. Auch nicht den Reichpräsidenten von Hindenburg, und auch nicht die Justiz, die in der frühen Phase der Errichtung der totalitären Herrschaft noch hätten eingreifen können.

Jeder, und wirklich jeder, Deutsche war Zeuge der gleich nach Hitlers Machtantritt einsetzenden Ausgrenzung der Juden, alle in diesem Land erlebten Tag für Tag die vom Regime einschließlich der „normalen“ staatlichen Verwaltungen erfindungsreich gesteigerten Demütigungen, Schikanen und Rechtsbrüche, die diese Mitbürger über sich ergehen lassen mussten. Marcel Reich-Ranicki erwähnt in seinen Erinnerungen beiläufig, dass er die aktuellen judenfeindlichen Maßnahmen jeweils der Tageszeitung entnahm – einer ganz normalen, nicht etwa einer speziellen für Juden.

Auch die „öffentlich entwürdigende Schaufahrt“ Ludwig Marums durch Karlsruhe fand bereits im Frühjahr 1933 statt, wie sich aus dem uns von Bbr. Melchinger zur Kenntnis gebrachten Artikel ergibt.

 

Literatur

Benz, Wolfgang: Geschichte des Dritten Reiches, München 2000

Gellately, Robert: Hingeschaut und weggesehen. Hitler und sein Volk, München 2004

Fischer, Ilse: Marum, Ludwig, in Deutsche Biographie, http://www.deutsche-biographie.de/pnd118731459.html

Haffner, Sebastian: Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914–1933, Stuttgart/München 2000

Hoppe, Bert: Der Terror kam aus der Mitte der Gesellschaft, Berliner Zeitung vom 7.5.2010

Jersch-Wenzel, Steffi u.a.: Wegweiser durch das jüdische Berlin, Berlin 1987

Maser, Werner: Das Regime. Alltag in Deutschland 1933–1945, Berlin 1990

Reich-Ranicki, Marcel: Mein Leben, Stuttgart 1999

Wikipedia: Ludwig Marum, http://de.wikipedia.org/wiki/Ludwig_Marum

Wörmann, Heinrich-Wilhelm: Widerstand in Köpenick und Treptow, Berlin 1995

 

Nachträge:

1.8.1933 Verbot des Arbeiter-Samariter-Bundes

ab Mai 1933 Beschlagnahmen bei der Arbeiter-Wohlfahrt, dann Zwangsauflösung