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November | 2007

Trauerrede für


Sibylle Haberditzl

 

Liebe Sibylle,

In „Der Leopard“ von Lampedusa, eines der etwa 150 Bücher, die Du mit uns, Deinem Lesekreis, in 22 Jahren gelesen hast, antwortet der junge Adelige Tancredi auf die Vorhaltungen des Fürsten Salina wegen seiner aktiven Teilnahme am Risorgimento: „Wenn wir wollen, dass alles bleibt, wie es ist, dann ist es nötig, dass alles sich verändert. Habe ich mich deutlich ausgedrückt?“ Der Fürst begriff – und kanalisierte die Revolution.

In unserem Gespräch über dieses Buch hast Du uns auf diese Stelle aufmerksam gemacht. Später habe ich von Dir erfahren, dass Dir diese Erkenntnis des Angehörigen einer seit Jahrhunderten herrschenden Klasse nicht nur literarisch und allgemein historisch erwähnenswert ist, sondern dass sie Dir auch eine persönliche – schmerzliche – Erfahrung widerspiegelt.

Als den Nazis die Macht zugeschoben wurde, warst Du 10 Jahre alt. Ihre Herrschaft bestimmte das politische und gesellschaftliche Leben, als Du das Gymnasium und dann die Universität Tübingen besuchtest. Als Kind mochtest Du die Nazis nicht, als junge Erwachsene lehntest Du sie bewusst und begründet ab. Du gehörtest somit schon früh einer Minderheit an. An dieses Schicksal hast Du Dich im Laufe Deines Lebens gewöhnen müssen.

Der nie zur Disposition stehende Humanismus Deines Berliner Elternhauses hat Dich geprägt. Du erlebtest zu Hause nicht die geringste Anfälligkeit für den Antigeist und das Machtgepränge der Nazis. Aber Du hattest von frühauf auch Deinen eigenen Instinkt zur Unterscheidung von Gut und Böse, Wahrheit und Lüge, von Vernunft und Unvernunft, von anständigem und unanständigem Verhalten. Diesen Instinkt hast Du mit Wissen, Erkenntnis und Begreifen unterlegt und ihn Dir so ein Leben lang bewahrt.

Als Studentin in Tübingen fandest Du, obwohl evangelisch, den Dir adäquaten Kreis in der Katholischen Studentengemeinde. Anders als in der Evangelischen Studentengemeinde herrschte dort ein klarer antinazistischer Konsens. Immer wieder hast Du von diesem Kreis erzählt, er war Dir eine große Stütze. Eine Geschichte von Liebe und Finsternis.

Als der Krieg endlich vorbei war, gehörtest Du zu der Minderheit der Deutschen – wieder einmal – die befreit aufatmeten, bei allem Entsetzen und aller Trauer über die Hinterlassenschaft der Nazis: die denkbar größte Unordnung, materiell und geistig. Du erwartetest eine neue Ordnung, und setztest Dich für sie ein, eine Ordnung der Vernunft und der Gerechtigkeit, in der Dumpfes und Destruktives sich nicht durchsetzen können. Für Dich war es selbstverständlich, dass die Täter aller Ebenen zur Verantwortung gezogen werden.

In der Tat änderte sich alles, aber das Wesentliche blieb wie es war. Es wurde entnazifiziert, demokratisiert, entmilitarisiert, umerzogen, wiedergutgemacht, das Ende des Kapitalismus verkündet, Nie-Wieder-Schwüre überall. Doch, das Zählen der Toten war noch nicht abgeschlossen, die deutschen Städte lagen noch in Trümmern, von den Städten und Landschaften überfallener Länder ganz zu schweigen, da verkündeten die neuen Eliten die Wiederaufrüstung. Deine Mutter gründete mit Gustav Heinemann, Johannes Rau und vielen anderen die Gesamtdeutsche Volkspartei als Sammelbecken des Widerstands gegen die Remilitarisierung Westdeutschlands. Du warst an ihrer Seite. Doch die neue Armee kam, geführt von den alten Offizieren. Die ersten Rüstungsaufträge kamen ebenfalls, sie gingen an die alten bewährten Adressen. Wenige Jahre später forderte Adenauer Atomwaffen für die Bundeswehr. Die wenigstens konnten verhindert werden, durch den Widerstand aus der Bevölkerung, an dem Du beteiligt warst.

Die alle Bereiche gesellschaftlicher Macht umfassende Restauration in der Bundesrepublik war von Dir kaum zu verkraften. Sie war die prägende politische Enttäuschung Deines Lebens – wenn auch nicht die einzige. Es ist kein Zufall, dass jedes fünfte der in unserem Kreis gelesenen Bücher Nazizeit und Faschismus unmittelbar zum Gegenstand hatte. Viele dieser Bücher spielten im Westeuropa der Nachkriegszeit. Der einzige Autor, der je in unserem Kreis gelesen hat, war Edgar Hilsenrath.

Zeitlebens hast Du unter der Vernichtung der Juden gelitten. Jahrzehnte lang hast Du Dich damit auseinandergesetzt, noch aus dem persönlichen Erleben heraus, Du kanntest mehrere Opfer, Klassenkameradinnen zum Beispiel. Oft haben wir beide über die Shoa gesprochen. Wir wissen sehr viel über sie, aber erfassen, begreifen können wir das Unfassbare nie. Liebe Sibylle, sehnen wir uns nicht manchmal in Melancholie danach, aus tiefem Schlaf zu erwachen mit dem Gedanken: Wie Schreckliches doch der Mensch träumen kann?

Die Shoa ist kein Traum. Sie ist historische und gesellschaftliche Realität. Da die Restauration nicht zu verhindern war, galt es, unbedingt zu verhindern, dass die Vernichtung der Juden und die Naziherrschaft überhaupt verharmlost und neue Bilder vernichtungswürdiger Feinde aufgerichtet werden. Gegen alle dominanten Trends im Kalten Krieg stelltest Du Wissen gegen Propaganda und Ideologie, die Fakten gegen die Fälschung. Du richtetest das Bild des Menschen auf, vor allem in den Herzen und Köpfen der Kinder und Heranwachsenden Deiner Schule. Durch Aufklärung und Selbständigkeit sollten sie für ihr Leben immun sein gegen jede Demagogie. Das war Dein pädagogischer Imperativ. Aber Du erreichtest nur wenige Menschen, und es gab zu wenig Menschen mit Deiner Intention. Die aus den Verhältnissen kommende Bedrohung blieb.

Es ist erstaunlich, wie früh Du im Klima der Restauration und der Systemauseinandersetzung erkanntest, dass Frieden und ein lebenswertes Leben für alle Menschen, auf Dauer nur zu erreichen sind, wenn sich die Verhältnisse grundlegend ändern. Grundlegend andere gesellschaftliche Verhältnisse sahst Du in der DDR und in den anderen sozialistischen Ländern. Zumindest der Ansatz war Deiner Meinung nach richtig, die ersten Schritte in eine humane Gesellschaft getan. Dir gefiel der ganz andere Umgang mit der Hinterlassenschaft der Nazis, man stand auf der Seite der Opfer, und nicht in der Tradition der Täter. Viele der Opfer trugen Verantwortung. Du hattest einen positiven Blick auf diese Länder, aber auch einen kritischen, es war letztlich ein Blick der Erwartung und der Hoffnung.

Großen Auftrieb gab Dir die um 1968 plötzlich ausbrechende politische Dynamik in der bundesdeutschen Gesellschaft. Die Linke war zwar immer noch eine Minderheit, aber eine wachsende, und sie verschaffte sich Gehör. Deine Schülerinnen und Schüler interessierten sich jetzt in nie erlebter Intensität für Politik und Geschichte. In Dein Kollegium kamen Referendare mit Deiner Gesinnung, nicht immer in jeder Frage mit Dir einer Meinung, aber doch im Grundsätzlichen auf Deiner Seite. Es gab endlich die von Dir stets gewünschten und geforderten ernsthaften Debatten, innerhalb und außerhalb der Schule.

Von Anfang an war aber diese Freude nicht ungetrübt. Die Brutalität und Kälte, womit der Staat seine Machtmittel Polizei, Justiz und Geheimdienste gegen die Studentenbewegung einsetzte, hätten wir, bei allen linken Erkenntnissen, nicht für möglich gehalten, auch Du nicht. Die Hetze in den Medien schuf Pogromstimmung. Erinnerung an die Nazizeit. Wir waren in Sorge und hatten Angst. Auf Rudi Dutschke wurde ein Attentat verübt. Der Täter, ein Arbeiter, rechtfertigte sich mit der Berichterstattung der BILD-Zeitung. Du hast immer wieder beklagt, fast verzweifelt bist Du daran, dass Menschen so leicht dazu zu bringen sind, reflexartig den Signalen der Macht zu folgen, vor allem Menschen, die nie selbst ein Quäntchen Macht besessen haben, schon gar nicht über das eigene Leben. Zwar wusstest Du, wer die Staatsmacht den Nazis zugeschoben hatte, doch Du wusstest auch, dass es ohne die Massenbasis der Nazis nie hätte geschehen können. Du hast Dich damals intensiv mit der Frage beschäftigt, wie Aufklärung diese betrugsanfälligen, weil um ihr Leben betrogenen Menschen erreichen kann. Wir erkannten, dass wir die Masse unserer Bevölkerung unmittelbar zunächst nicht erreichen können.

Aber wir wussten, dass wir viele Einzelne erreichen können, auch viele Multiplikatoren. Menschen, die sich selbst an der Protestbewegung beteiligten, und andere, denen der Protest Anlass eigenen Nachdenkens und eigenen Studiums war. Wir schlossen uns den Produzenten der Zeitschrift Das Argument an. Methodische Analyse und Kritik, Schlussfolgerung, Anleitung zum Handeln. Theorie und Praxis als Einheit – und Parteilichkeit, das war die Linie der Redaktion, der wir schon bald angehörten. Es war Deine Welt, und blieb es für viele Jahre. Die Reihe der Hefte und Bände, an denen Du mitgearbeitet hast, ist lang. Wir schätzten an Dir Deine enorme Bildung, die Kompetenz in Deinen Fachgebieten und Dein politisches Denken. Ich schätzte besonders an Dir Deine Emotionalität, die Leidenschaft, mit der Du Dich für Frieden, Menschenrechte und für ein besseres Leben aller Unterprivilegierten dieser Welt engagiert hast. Gefühl und Vernunft sind zwei gleich starke Kräfte in Dir. Dazu Deine Lernfähigkeit, bis in Dein hohes Alter. Du warst beharrlich, aber nie rechthaberisch. Über Dein Gleichgewicht von Vernunft und Emotion verfügen nicht allzu viele Menschen, auch – oder besonders? – nicht unter den Linken.

Im Sonderband „Hanns Eisler“ des ARGUMENT von 1975 veröffentlichtest Du den Artikel „Der abscheuliche Optimismus und sein Opfer“. Du knöpfst Dir den Autor eines Fernsehfilms der ARD über Hanns Eisler regelrecht vor. Du bist sehr zornig über diesen Film, und machst daraus in Deinem Text keinen Hehl.

„Der Zeitgenosse Ernst Fischer“, schreibst Du, „sagt aus naher Kenntnis: ´Was er (Hanns Eisler) am wenigsten leiden konnte, war das Dumpfe, Dunstige, Pappige, wie er es genannt hat. Gegen die Dummheit in der Musik und nicht nur in der Musik hat er sein Leben lang gekämpft.´“

Du fügst an:

„Der aufmerksame Hörer gewinnt den Eindruck, der Autor habe sich zur Maxime gemacht: so dumpf, so dunstig, so pappig wie möglich! Wenn auch nicht aus Dummheit, sondern vorsätzlich.“

Dein Zorn über die Manipulation, über das Zurechtbiegen der Person Hanns Eislers, um ihn, der sich nicht mehr wehren kann, im Kalten Krieg gegen die DDR instrumentalisieren zu können, flaut in Deinem Artikel nicht ab. Das ist Deine eine Seite. Die andere ist Dein präziser Nachweis der Manipulation und Deine genaue Kenntnis Eislers und seines Werks, mit denen Du die Fälschung nachvollziehbar aufdeckst. Emotion und Intellekt.

Ein Jahr zuvor veröffentlichte Dein Mann Werner im ARGUMENT den Artikel:

„Sir Karls neue Kleider. Bemerkungen zu Poppers Entwurf einer Theorie der objektiven Erkenntnis.“ Beim Wiederlesen jetzt nach Deinem Tod erfreute mich eine Gemeinsamkeit Eurer Texte: die Gleichzeitigkeit von Zorn und kühlem Kopf. Und noch eine Gemeinsamkeit: Souveränität.

Zum Schluss zitierst Du ein große Siegeszuversicht aussprechendes Gedicht von Brecht, dessen letzte Zeilen lauten:

Müssen sie denn die Wahrheit so fürchten?
Eh sie verschwinden, und das wird bald sein
Werden sie gemerkt haben, dass ihnen das alles nichts mehr nützt.

Dann Dein Schlußsatz:

Viel Optimismus! Zum Melancholischwerden für Pessimisten.

Das von Dir mitten im Aufbruch! Was war geschehen? Der Gegner schlug zurück, nach anfänglicher Überrumpelung fand er wieder zu einer Strategie gegen uns: Radikalenerlass, Rückeroberung der wenigen Freiräume an den Hochschulen, der Neoliberalismus begann sich dort festzusetzen, noch auf Samtpfoten, und dann die Vorboten des „Deutschen Herbstes“. Du wusstest um den großen Schaden, der uns damit zugefügt wird. Du fragtest: cui bono, und vermutetest eine unsichtbare Hand am Werk, auch aus Deiner Kenntnis der Geschichte der emanzipatorischen Bewegungen der Menschheit. Dass Du nicht nur Unrecht mit Deiner Vermutung hattest, ist heute aktenkundig.

Den Putsch in Chile hatten wir noch nicht überwunden, und haben es bis heute nicht. Die Unidad Popular – unsere glühende Hoffnung auf eine neue Qualität des Sozialismus, auf das endliche Erreichen seiner höheren, menschlicheren Phase – hingemordet, unter teils klammheimlicher bis hämischer Freude, teils unter offenem Jubel unserer Gegner hier, verbunden mit einer rauschhaften Diffamierung der Unidad Popular, die sich nicht mehr wehren konnte. Der Sieg in Vietnam konnte in uns den Optimismus nicht wieder aufrichten. Zu sehr waren wir entsetzt über das Ausmaß der Zerstörungen, die 30 Jahre freedom and democracy in diesem Land und in seinen Menschen angerichtet hatten – und darüber, dass Regierungen, Medien und Bevölkerungsmehrheit unseres Landes den Krieg ihres Verbündeten bis zuletzt gerechtfertigt hatten.

Dazu die Enttäuschungen über Stagnation, Unvernunft und Missachtung von Menschenrechten in den sozialistischen Ländern, die in Dir allmählich zu einer Grundenttäuschung wurde. Irgend wann hast Du nicht mehr an den großen Sprung nach vorn in den sozialistischen Ländern geglaubt. Dein Blick war zu rational, Dein Verstand zu analytisch, um die tödliche Lähmung zu übersehen. Auch hier trafst Du Dich mit Deinem Mann, dem Naturwissenschaftler, Philosophen, Klavierspieler und Kommunisten aus Leidenschaft und Vernunft, Werner Haberditzl. Euer Sohn Anton erinnert sich an ein Gespräch zwischen Werner und Manfred Weckwerth etwa 1980, in dem beide sich eingestanden, dass sie nicht mehr an eine positive Wende in der DDR und in der Sowjetunion glauben. Ich fragte ich Dich einmal, ob die Verhältnisse in den sozialistischen Ländern Anteil hätten an Werners Krankheit und frühem Tod. „Sicherlich“, antwortetest Du.

Die letzte, endgültige Wende hat Werner nicht mehr erlebt. Aber Du musstest auch dieses so nicht erwartete Ereignis verkraften. Du wusstest sofort, was diese Wende für die Masse der Menschen im „siegreichen“ Westen für Folgen haben wird. An die angekündigte „Friedensdividende“ (was für ein Wort!) hast Du nicht eine Minute lang geglaubt. Du wusstest, Zugeständnisse an das Menschliche rechnen sich ab jetzt für das Kapital nicht mehr, und werden gestrichen.

Du durchlebtest die zweite große politische Enttäuschung Deines Lebens. Die Zeichen der Resignation in Deinem Verhalten und sogar in Deiner Physiognomie waren für mich nicht mehr zu übersehen.

Hinzu traten Verluste der anderen, sinnloser Weise natürlichen Art. Du hattest zu trauern um Deine Freundinnen Eva und Margarita. Dein Dir sehr verbundener Bruder starb. Am Tag nach seinem Tod brachst Du Dir in Deinem Garten einen Arm. Es besteht ein Zusammenhang, sagtest Du mir. Du sprachst wörtlich – ich habe es mir aus meinem Erstaunen heraus damals aufgeschrieben – vom Bestehen einer „unterirdischen Verbindung“ mit Deinem Bruder.

Trotz alledem: ein homogener Trauerkloß bist Du aber nicht geworden. Immer noch und immer wieder konntest Du herzhaft lachen, z.B. über Komik in der Literatur. Immer wissend, dass sich hinter echter Komik die Tragik der menschlichen Existenz verbirgt (Du lachtest gern über Karl Valentin).

Nie werde ich vergessen, wie Du mich anriefst und mich fragtest, ob ich im Italo Svevo schon das Kapitel „Geschichte eines Handelshauses“ gelesen habe (dieses Buch war im Literaturkreis gerade dran). Ohne meine Antwort abzuwarten, lachtest Du laut und von Herzen. „Einfach köstlich, herrlich“ riefst Du mir ins Ohr. Svevos Kapitel handelt vom Versuch zweier junger Männer aus bürgerlich gutem, also gut situiertem, Haus, die meinten, indem sie sich eine gehörige Portion bürgerlichen Weltschmerzes zulegen geachtete, also erfolgreiche Bürger werden zu können, ohne überhaupt nur daran zu denken, sich die wesentlichen Merkmale bürgerlicher Etablierung anzueignen, nämlich Askese und Leistung.

Oder Dein Lachen über den unfehlbaren Börsenguru, den „Master of the Universe“ von Tom Wolfe, der beim Gassiführen des Hundes, selbstverständlich in der 5th Avenue, Hund zerrt und es regnet, die Telefonnummer seiner Geliebten mit seiner eigenen verwechselt und ganz unerwartet seine Frau am Ohr hat, die standesgemäß sofort kapiert. Und wie sich aus diesem Missgeschick über fast 1000 Seiten der Weg des Tycoons von ganz oben nach ganz unten vollzieht.

Zur Besprechung seines „Tod in Rom“ brachtest Du einen kleinen Text von Koeppen über die Qual des Schreibens mit. Mit Vergnügen last Du uns die Stelle über den betrunkenen Faulkner bei seiner Auszeichnung mit dem Nobelpreis, und über die verständnisvolle Grandezza des schwedischen Königs vor. Und über Flaubert, wie der es in zwei Stunden nicht fertig brachte, im Auftrag einer Gesellschaft – Sie sind doch Schriftsteller – einen Gruß an einen abwesenden Freund zu formulieren.

Ja, wir haben in über zwanzig Jahren viel gelacht mit Dir, leider am Schluss mit abnehmender Tendenz, bis Du ab Mitte letzten Jahres ganz fortbliebst. Deine zunehmenden körperlichen Gebrechen waren nicht lustig. Aber auf unserem ersten Treffen nach Deinem Tod hast Du uns noch einmal Anlass zum Lachen gegeben. Du hattest Anton nach unserer aktuellen Lektüre gefragt. „Licht im August von Faulkner“, antwortete er, und fügte hinzu: „Der Roman spielt im Bürgertum“. „Im Kleinbürgertum“, korrigiertest Du von Deinem Sterbebett aus.

Sicher werden wir noch oft in der Erinnerung an Dich lachen. Aber ich vermute, dass den stärkeren Eindruck Deine Melancholie, Deine Ausstrahlung von Resignation in Deiner allerletzten Lebensphase in uns hinterlassen wird. Melancholie und Resignation, Trauer über die Wirklichkeit, Enttäuschung waren ein Leben lang in Dir angelegt, nein, von außen durch Umstände und Gesellschaft aufgezwungen.

Am vergangenen 28. September hatte ich diesen Satz gelesen, ausgesprochen von Faulkners Figur Joe Christmas – vom Autor im Text kursiv hervorgehoben:

Ich habe für sie gemordet. Sogar gestohlen habe ich für sie.

Ich dachte sogleich an Dich – dass ich mir gerne von Dir hätte bestätigen lassen würde, dass dieser Satz bezeichnend ist für die Welt, in der er ausgesprochen wird. Unseren – partiellen – Gleichklang wollte ich noch einmal spüren. Am nächsten Vormittag, 29. September, mein Geburtstag, rief mich Peter Schmode an, gratulierte nicht, sondern teilte mir mit, dass Sibylle vor wenigen Stunden verstorben ist.

Anfang des Jahres bat ich Dich brieflich, doch wenigstens zur nächsten Sitzung, die bei uns zu Hause stattfand, zu kommen. Dein Thomas Mann, Dein Zauberberg wird besprochen! Immer wieder unsere Hoffnung, wir könnten Dich mit Lieblingsliteratur locken (eine zeitlang hat das tatsächlich funktioniert), Du würdest Dich erholen und es würde mit Dir und uns in der alten vertrauten schönen Weise weitergehen. Du riefst mich an und sagtest, Deinen Zustand schildernd, mit bedauernd ab. In meinem Brief hatte ich aus einem heiteren Heine-Gedicht zitiert, mit dem Vorschlag, in Kürze eine Auswahl von Heines Gedichten im Kreis zu lesen. Auch ein Lockruf, auf den Du reagiertest – auf andere Weise. Am Telefon trugst Du mir dieses Gedicht von Heinrich Heine vor:

Lazarus

Laß die heil’gen Parabolen,
Laß die frommen Hypothesen –
Suche die verdammten Fragen
ohne Umschweif uns zu lösen.

Warum schleppt sich blutend, elend,
Unter Kreuzlast der Gerechte,
Während glücklich als ein Sieger
Trabt auf hohem Roß der Schlechte?

Woran liegt die Schuld? Ist etwa
Unser Herr nicht ganz allmächtig?
Oder treibt er selbst den Unfug?
Ach, das wäre niederträchtig.

Also fragen wir beständig,
Bis man uns mit einer Handvoll
Erde endlich stopft die Mäuler –
Aber ist das eine Antwort?

Sibylle, ist das Deine endgültige Resignation? Hast Du am Ende doch aufgegeben? In diesem Punkt folgen wir Dir nicht. Und wir wissen, Du bist damit sehr einverstanden.

Berlin, 5. November 2007