Unter welchen politischen Bedingungen kann/muss im Moment und in Zukunft sozialistische Politik stattfinden?
Vorgetragen auf dem außerordentlichen Parteitag der SEW, 16.2.–18.2.1990
1. Der Zusammenbruch des Systems sich sozialistisch verstehender Staaten gestattet es dem Imperialismus, seine Interessen politisch und militärisch rücksichtsloser durchzusetzen, was sich vor allem auf die Länder der Dritten Welt und des ehemaligen sozialistischen Lagers auswirken wird. Aber auch mit einer Zuspitzung der klassischen innerimperialistischen Rivalitäten bis hin zur Gefährdung des Weltfriedens muss gerechnet werden, nachdem die disziplinierende Herausforderung durch den Sozialismus weggefallen ist.
2. In Osteuropa und in Asien eröffnen sich dem Imperialismus neue Anlagesphären, Absatzmärkte und Rohstoffquellen. Die sich herausbildende Konkurrenz zwischen der Dritten Welt und den ehemaligen sozialistischen Ländern wird die Chancen für Entwicklung und Emanzipation in beiden Sphären erheblich verringern. Da sich die Länder des „real existierenden Sozialismus“ (RES) durch hohe Verschuldung erst ausplünderungsfähig machen müssen, fließt über lange Zeit über den weltmarktgemäßen Transfer hinaus ein großer Teil des Sozialprodukts als Schulden- dienst in die imperialistischen Länder.
Dieser Verbesserung der Verwertungsbedingungen des internationalen Kapitals steht zumindest tendenziell ihre Verschlechterung im Bereich Rüstung und Raum- fahrt gegenüber, da der Wegfall der Systemkonkurrenz die Rechtfertigung dieser Ausgaben erschweren wird.
3. Besonders folgenschwer sind die Auswirkungen des Sieges des Imperialismus in der Systemkonkurrenz im Bereich der Ideologie. Der Kapitalismus erscheint, wie zur Zeit seines Entstehens, als die einzig mögliche und einzig vernünftige Wirtschaftsform. Sein Anspruch auf naturgesetzliche Ewigkeit wurde scheinbar von der Geschichte bestätigt.
Vor allem für die Völker der imperialistischen Zentren erscheint die sozialistische Perspektive eher als Horrorvision denn als Hoffnung auf die Erfüllung ihrer Lebens- wünsche. Für uns als Kommunisten und für die gesamte systemkritische Linke besteht die Erblast darin, dass durch die Praxis des RES und durch die offensichtliche Unglaubwürdigkeit der kommunistischen Parteien in Ost und West die wissenschaftliche Methode des Marxismus und alle mit ihr erarbeiteten theoretischen und politischen Einschätzungen für die arbeitenden Menschen ebenfalls unglaubwürdig geworden sind.
4. Durch das historische Versagen der real-sozialistischen Staaten und der kommunistischen Parteien hat sich jedoch das Wesen des Imperialismus nicht verändert. Die im Interesse ihres Überlebens in der Konkurrenz notwendigerweise am Profit orientierten privaten Einzelkapitale entscheiden privat über die Investitionen und damit über die Zukunft von Gesellschaft und gesamter Menschheit. Die Konkurrenz der Einzelkapitale erzwingt deren Wachstum und damit das Wirtschaftswachstum überhaupt, was mit wachsendem Druck auf die natürlichen Lebensbedingungen von Mensch, Tier und Pflanze einhergeht. – Unter den Bedingungen sich verschärfender Konkurrenz kann sich kein Management eines Einzelkapitals erlauben, seinen Investitionsentscheidungen andere als Profitkriterien bestimmend zugrunde zu legen.
Der Kapitalismus ist ohne Arbeitsmarkt nicht denkbar, was eine vernünftige Verteilung der gesellschaftlichen Arbeit auf der Basis ihrer enorm gestiegenen Produktivität ausschließt. Stand und Tendenz der Kapitalkonzentration und der Produktivkraftentwicklung schaffen weiterhin hohe und dauerhafte Arbeitslosigkeit in den Peripherien und Zentren des Imperialismus.
5. Angesichts der globalen Probleme reicht es nicht aus, die Frage nach der Reformfähigkeit des Kapitalismus schlechthin zu stellen. Im Überlebensinteresse der Menschheit muss die Frage heute lauten: Ist der Kapitalismus so weit reformierbar, dass der bevorstehende Kollaps der Natur verhindert, dass die Verelendung von Milliarden Menschen vor allem in den Peripherien aufgehalten und dass die Gefahr der Vernichtung der Menschheit durch Krieg beseitigt werden kann?
Alle bisherigen Reformen haben nicht verhindern können, dass der Imperialismus
– in jeder Stunde seiner Existenz ein weiteres Stück Natur unwiederbringbar
zerstört,
– an jedem Tag mehr Menschen an Hunger und Krankheit sterben lässt und
selbst in seinen Zentren mit jedem Jahr seines Wirkens tendenziell mehr Ar
beitslosigkeit und Elend produziert,
– Jahr für Jahr sein militärisches Vernichtungspotential vergrößert.
Ohne den Kampf der Reformkräfte würde die Bilanz des Imperialismus quantitativ noch negativer ausfallen. Aber dieser Kampf konnte und kann auch in Zukunft den negativen Trend nicht umkehren. Sobald die Reformpolitik in einem kapitalistischen Land über ihre objektive Funktion, nämlich vom Kapital selbst geschaffene Verwertungsschranken abzubauen, wesentlich hinausgeht und die Kapitalverwertung behindert, wird sie durch steigende Arbeitslosigkeit infolge von Positionsverschlechterungen auf dem Weltmarkt zur Kapitulation gezwungen. Das gilt auch für den Umweltschutz – trotz aller Versuche, ihn durch internationale Abkommen wettbewerbs- neutral zu gestalten.
Der Umbruch zugunsten eines vernünftigen Wirtschaftens, das die verbliebenen natürlichen Lebensbedingungen erhält und die vom Kapitalismus hoch entwickelten Produktivkräfte für Wohlstand und freie Entfaltung aller Individuen nutzt, kann nur von einer Gesellschaft vollzogen werden, die selbst über die Investitionen und damit über ihre Zukunft entscheidet und die ihrem Wirtschaften andere Ziele setzt als die vom Imperialismus übernommenen.
6. Den spektakulärsten Sieg hat der Imperialismus jetzt auf deutschem Boden errungen. Durch die Selbstaufgabe von SED und DDR wird es zu einer raschen Vereinigung der beiden deutschen Staaten kommen, selbstverständlich zu den Bedingungen des Staates, der die Systemauseinandersetzung gewonnen hat. Die deutsche Linke muss schnellstens einschätzen, wie der Prozess der Vereinnahmung der DDR durch den deutschen Imperialismus ablaufen und welche Folgen er für die Arbeitenden in ganz Deutschland haben wird.
Sichere Prognosen sind nicht möglich. Mit Hilfe von zwei Szenarien kann aber das Spektrum der möglichen Abläufe abgesteckt werden.
1. Szenario:
Nach Bildung des deutschen Einheitsstaates mit einer Währung und einem Recht bleibt der weitere Prozess weitestgehend dem „freien Spiel der Marktkräfte“ überlas- sen. Die Betriebe der DDR erweisen sich als nicht wettbewerbsfähig und verschwinden vom Markt. Die Joint Ventures, soweit sie überhaupt noch stattfinden, bedeuten überwiegend Aufkauf der DDR-Betriebe durch die westdeutsche Konkurrenz zum Zwecke ihrer Schließung. In der ehemaligen DDR wird die Kaufkraft mit Waren aus den westlichen Überkapazitäten abgeschöpft.
Wirtschaftswachstum und Produktivkraftentwicklung finden im Westen statt und nicht in der ehemaligen DDR. Die Abwanderung qualifizierter Werktätiger setzt sich fort. Aber auch der mobile Teil der weniger Qualifizierten setzt sich in Richtung Ballungszentren des Westens in Bewegung: Die ehemalige DDR wird zum deutschen Mezzogiorno.
2. Szenario:
Das westdeutsche Kapital investiert – direkt durch den Staat oder über diesen vermittelt – Milliarden in den Aufbau einer leistungsfähigen Infrastruktur und Energiewirtschaft, sowie in die Beseitigung bzw. Eindämmung besonders bedrohlicher Umweltschäden.
Auf dem Gebiet der DDR entsteht ein innerer Markt, der in gewissem Umfang zu privaten Investitionen führen wird. Wir erleben einen „Gründerboom“. Er bietet den produktiveren DDR-Betrieben eine gewisse Überlebenschance.
Die in diesem Prozess entstehende Inflation wird sich jedoch nachteilig auf die Konkurrenzfähigkeit des deutschen Kapitals auf dem Weltmarkt auswirken. Angesichts der starken Abhängigkeit der Konjunktur von hohen Exportüberschüssen ist ein wirtschaftlicher Abschwung wahrscheinlich, der durch die im Rausch des Gründerbooms aufgebauten Überkapazitäten sowie durch die übliche Gründerspekulation verstärkt wird. Die Gründerkrise tritt ein, der zuerst die am Markt verbliebenen DDR-Betriebe zum Opfer fallen.
7. Welchen Weg der Einverleibung der DDR das deutsche Kapital auch wählen wird, immer werden starke Belastungen für die arbeitenden Menschen in ganz Deutschland die Folge sein. Durch die Aufnahme von Millionen von DDR-Bürgern geraten Rentenversicherung, Gesundheitssystem und Arbeitslosenversicherung aus den Fugen, was – wenn überhaupt – nur mit drastischen Beitragserhöhungen und Leistungsminderungen aufgefangen werden kann. Die mit einer sofortigen Vereinigung in jedem Fall verbundenen hohen Belastungen des Staatshaushalts werden, wie gewohnt, über Erhöhungen vor allem der indirekten Steuern und über Kürzungen der Sozialleistungen, aber auch über die Inflation, auf die Werktätigen abgewälzt. Gleichzeitig wird sich der Druck auf Löhne, Arbeitsbedingungen und Arbeitsrecht verstärken.
Die schon jetzt einsetzende Bodenspekulation führt angesichts des zunehmenden Mangels an Wohnraum zu einer gigantischen Umverteilung zugunsten der GrundeigentümerInnen, zulasten der MieterInnen und der kleinen Gewerbetreibenden, sowie zulasten der freien Kultur. Hier wird Berlin alle Rekorde brechen. (Schon in ein paar Jahren werden wir unser West-Berlin nicht mehr wieder erkennen!)
Der Druck auf die Lebensbedingungen der arbeitenden Menschen wird noch verstärkt durch den weiter ansteigenden Strom von Aussiedlern aus den anderen Ländern des ehemaligen sozialistischen Lagers.
8. Diese Entwicklung wird nach Verfliegen der Wiedervereinigungseuphorie zu sozialen Spannungen und Auseinandersetzungen führen. Diese stoßen auf das folgende, sich in ganz Deutschland herausbildende Spektrum politischer Parteien.
Es entstehen bzw. existieren bereits
– der Reformblock mit der SPD als bestimmender Kraft, einschließlich grüner Parteien und Gruppierungen
– der konservative Block mit der CDU/CSU als bestimmender Kraft,
– die rechtsradikalen Organisationen und Parteien mit den Republikanern als
zur Zeit stärksten und integrationsfähigsten Kraft.
Traditionell richten sich die ökonomischen und politischen Hoffnungen besonders der klassenbewussten Werktätigen zunächst auf den Reformblock.
9. Ohne einzelne Strömungen bei SPD und Grünen/AL zu übersehen, bleibt Fakt, dass diese Parteien die Eigentums- und damit die Systemfrage weitestgehend tabuisieren und nicht zum Gegenstand ihrer Politik machen. Vor allem die Politik der SPD bleibt verwertungsorientiert und lässt Reformen nur im Rahmen dieser Orientierung zu.
Deshalb ist vom Reformblock keine Abkehr von der Politik des Wirtschaftswachstums, keine Durchbrechung des dem Kapitalismus immanenten Wachstumszwangs, zu erwarten. Im Gegenteil: Vor allem die staatsinterventionistisch orientierte SPD wird, wie bisher, logischerweise das Wachstum fördern. Die Begründung, dass fehlendes oder geringes Wachstum die Staatseinnahmen reduziert und damit die Finanzierung von Reformen verhindert und die staatlichen Sozialleistungen bedroht, ist systemimmanent sogar richtig.
10. Angesichts der besonderen Belastungen, die auf die Arbeitenden in Deutschland zukommen, wird der Reformblock die in ihn gesetzten Hoffnungen früher oder später enttäuschen müssen. Da ein politischer Block links vom Reformblock nicht existiert, werden Konservative und Rechtsradikale Zulauf von desorientierten Werk- tätigen erhalten.
Mit Bestürzung müssen wir jetzt erleben, welche Attraktion Rechtsradikalismus und offener Faschismus auf viele Menschen in der DDR ausüben. Die Verantwortung hierfür trägt die SED wegen ihrer totalitären Missachtung der Demokratie und damit des Volkes und wegen der von ihr jahrzehntelang betriebenen Diskreditierung humaner und sozialistischer Werte.
Auch in verschiedenen Ländern Westeuropas verlaufen Aufschwung des Rechtsradikalismus und Niedergang der kommunistischen Parteien parallel. Der Zusammenhang ist offensichtlich.
11. Unsere Gesellschaft braucht eine sozialistische Kraft, die auf der Basis wissenschaftlicher Erfassung der Realität konsequente, aber illusionslose Reformpolitik betreibt, ohne dabei den Menschen die sozialistische Perspektive vorzuenthalten. Wir brauchen eine sozialistische Kraft, die sich die Errungenschaften der bürgerlichen Demokratie als unveräußerliche Menschenrechte aneignet und sie programmatisch und politisch verteidigt. Dies darf nie wieder zur bloßen Taktik verkommen, sondern muss im Wesen dieser linken Kraft verwurzelt und fester Bestandteil ihres Selbstverständnisses sein. Wir brauchen eine linke Kraft, die nicht opportunistisch nach Beifall und Wählerstimmen schielt, sondern die den Mut hat, den Menschen auch im Moment noch als unbequem empfundene Wahrheiten zu sagen, z.B. bezüglich unseres Konsummodells und seinen Auswirkungen auf die Bewohnbarkeit unseres Planeten.
(Will die Menschheit das Konsummodell der USA über die ganze Welt verbreiten, so benötigt sie die Ressourcen von 5 1/2 Erden; begnügt man sich mit dem Konsumniveau der CSSR, kommt man schon mit 2,3 Erden aus.)
Eine solche politische Kraft wird früher oder später in der Lage sein,
– die politisch Aufgeklärten links von SPD und Grünen zu integrieren, den Menschen die Ursachen ihrer Probleme und Ängste zu vermitteln, ihnen eine Perspektive und die Möglichkeit zum politischen Handeln für die eigenen Interessen zu eröffnen,
– die wirtschaftlich und sozial Ausgestoßenen anzusprechen und sie davor zu schützen, Opfer rechtsradikaler Demagogie zu werden. Diese sozialistische Kraft wird bündnisfähig für andere systemkritische Strömungen und Gruppierungen, sie wird zum Kern des Bündnisses. Es entsteht ein linker Block, dessen politische Arbeit die bürgerliche Demokratie nicht nur schützt, sondern sie auch auf eine höhere Stufe hebt. Die Entstehung eines solchen Blocks ist die Voraussetzung für die Hegemoniefähig- keit systemüberwindender Positionen.
12. Es wäre jedoch illusionär, zu übersehen, dass das bestehende parteipolitische Spektrum – also mit SPD und Grünen als Linksaußen – die ungebrochene Akzeptanz des Imperialismus bei der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung widerspiegelt. Will die sozialistische Linke ihr Sektendasein überwinden, muss sie endlich die große Attraktivität des Imperialismus und dessen Ursachen zur Kenntnis nehmen:
Für ihren Lohn können die Werktätigen Konsumgüter ihrer Wahl aus einem scheinbar unendlichen Angebot unter Nutzung des Wettbewerbs frei und verlässlich kaufen, ganz im Gegensatz zu ihren Klassenbrüdern und -schwestern in den Ländern des RES. Wie viele praktische und schöne Gegenstände mit hohem Gebrauchswert wären niemals erfunden worden, hätte diese Form des Sozialismus im Weltmaßstab gesiegt!
Der Imperialismus bietet vielen Menschen in ihrem Privatleben ein hohes Maß individueller Freiheit. Selbst im Arbeitsprozess vermittelt er, entsprechend dem Entwicklungsstand der Produktivkräfte, immer mehr Menschen das Gefühl persönlicher Freiheit. Vor allem die Intelligenz in den kapitalistischen Ländern begründete ihre Ablehnung des Sozialismus primär mit dem Fehlen von individueller Freiheit.
Die Produktivkraftentwicklung verläuft im Imperialismus wesentlich schneller und umfassender und hat eine höhere Qualität als in den Ländern des RES. Die technische und organisatorische Überlegenheit des Imperialismus ist eine wesentliche Ursache für die Identifizierung der arbeitenden Klassen mit „ihrem“ System.
Das Individuum im Imperialismus schätzt es in der Regel, die Politik nicht selber machen zu müssen, hat aber doch das Gefühl, an der grundsätzlichen Entscheidung darüber, wer regiert, beteiligt zu sein. Es erlebt, dass Wahlen häufig zum Regierungswechsel führen, während die Menschen im RES zwar andauernd irgend welche politischen Versammlungen und Schulungen besuchen müssen, sich aber damit abzufinden haben, dass sie jahrzehntelang von denselben Führern regiert werden.
Diese Skizze lässt den Schluss zu, dass es sich bei der Akzeptanz des Imperialismus um eine relative Akzeptanz handelt. Der Kapitalismus ist in den Augen der Menschen besser, effizienter, freier, lebenswerter als der Sozialismus. Durch das abschreckende Beispiel des RES wurde die Idee des Sozialismus unattraktiv und die sozialistische Gesellschaft als Alternative indiskutabel. Hierzu haben die kommunistischen Parteien des Westens mit ihrer verlogenen und verantwortungslosen Apologie des RES erheblich beigetragen.
14. Der Zusammenbruch des RES wird langfristig bewirken, dass in den kapitalistischen Gesellschaften unbelasteter über Systemfragen nachgedacht und diskutiert wird. Die durch das abschreckende Beispiel der sozialistischen Länder blockierte politische Vernunft und utopische Phantasie werden sich wieder entfalten können. Die Unfähigkeit des Imperialismus, die existentiellen Probleme der Menschheit zu lösen, muss nicht mehr aus Angst vor dem Sozialismus in Richtung illusionärer oder resignativer Akzeptanz verdrängt werden.