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Oktober | 2019

Toleranz aus Vernunft


„Preußens Gloria“ – ohne Marschmusik

 

Ausländer in Preußen

„Niemand wird Preuße denn aus Not.
Ist er’s geworden, dankt er Gott.“

„Berlin begann damals (um 1700) gerade erst, sich aus einem armseligen Provinznest mit schmutzigen, ungepflasterten, nachts stockfinsteren Gassen, in die die Haustier-ställe ragten und die Nachtgeschirre geleert wurden, allmählich zu einer angesehenen Metropole zu entwickeln, vornehmlich unter dem Einfluss der zahlreichen Neubürger, die vor allem aus Frankreich, Belgien, Holland, der Schweiz und Italien, aber auch aus Böhmen, Polen, Schottland und anderen Ländern, nach Berlin eingewandert waren und dort fast drei Viertel der Bevölkerung ausmachten.

 

Juden ohne Getto

Die Wiener Juden, deren Anzahl sich durch weiteren Zuzug rasch vermehrte und de-ren Gemeinde im Jahre 1700 schon mehr als tausend Köpfe zählte, bildeten im frü-hen 18. Jahrhundert bereits ein wichtiges, für das Aufblühen Berlins unentbehrliches Element. Ihre Läden und Handwerksbetriebe, Manufakturen, Bankgeschäfte und Au-ßenhandelsfirmen hatten die höchste Umsätze und zahlten die meisten Steuern. Ihre Häuser und Gärten zählten bald zu den schönsten der Stadt.

Während in der Reichsstadt Frankfurt am Main und an vielen anderen Orten Deutsch-lands die mittelalterlichen Judengassen und abgesperrten Gettos bis ins 19. Jahrhundert hinein fortbestanden, lebten die Juden, die seit 1671 nach Berlin gekommen waren, von Anfang an, wie einstmals vor Beginn der Kreuzzüge am Rhein, in Nach-barschaft mit und in ganz normalen Beziehungen zu ihren christlichen Mitbürgern.

In jeder Straße Berlins gab es bereits im frühen 18. Jahrhundert mindestens ein jüdisches Ladengeschäft, so wie es auch überall französische und italienische Läden gab. Schon 1714 wurde mit großen Feierlichkeiten und sogar in Anwesenheit des Hofes die erste öffentliche Synagoge in der Heidereutergasse eingeweiht, das erste offiziell zugelassene nichtchristliche Gotteshaus in Berlin.“
Bernt Engelmann: Du deutsch? Geschichte der Ausländer in Deutschland, S. 113 f.

 

Einweihung der Berliner Synagogen

Alte Synagoge Heidereutergasse 4
1714, in Anwesenheit der preußischen Königin Sophie Luise und ihres Hofstaates.
„Auch König Friedrich Wilhelm I. beehrte einmal (1718) den neuen Tempel gelegentlich eines Sabbatgottesdienstes mit seinem Besuch. Als Spende brachte er eine kostbare Gobelindecke mit, die in lateinischer Sprache die Inschrift ‚Timor Domini initium sapientiae’, zugleich mit der deutschen Übersetzung ‚Die Furcht des Herrn ist der Weisheit Anfang’ trug. Da dieses Kunstwerk als Vorhang für die Heilige Lade verwendet werden sollte, ließ die Gemeinde in hebräischer Sprache den Segenswunsch ‚Es lebe unser Herr, der König Friedrich Wilhelm’ in goldenen Buchstaben darauf sticken.“
Wegweiser durch das jüdische Berlin, Nicolai, Berlin 1987, S. 94

Neue Synagoge Oranienburger Straße
1866. „An ihrer Einweihung am 5. September 1866 nahm das Staatsministerium mit dem Ministerpräsidenten Bismarck an der Spitze teil.“
Katalog zur Ausstellung ‚Juden in Preußen’, Berlin 1981, S. 234

 

Der Berliner Antisemitismus-Streit

Der antisemitische Artikel „Unsere Aussichten“ des angesehenen Historikers Heinrich von Treitschke in den Preußischen Jahrbüchern November 1879, der in Preußen und darüber hinaus große Beachtung fand, stieß in der Professorenschaft der Berliner Universität auf entschiedenen Widerspruch. „Wie hat diese Körperschaft sich verhalten? Besser und entschlossener als je wieder eine deutsche Universität, wenn es um die Abwehr des Antisemitismus ging. Sie hat Treitschke moralisch isoliert.“
Der Berliner Antisemitismusstreit, Nachwort von Walter Boehlich, Frankfurt/Main, 2. Auflage 2016, S. 247

 

Nützliche Toleranz

„In Brandenburg-Preußen herrschte, im krassen Gegensatz zu den meisten anderen Staaten Deutschlands und Europas, eine für die Zeit erstaunliche Toleranz gegenüber anderen Religionen, Sekten und erst recht gegenüber fremden Nationalitäten. Es konnte dort, wie es Friedrich II. 1740 kurz nach seinem Regierungsantritt verkündete, ‚jeder nach seiner Fasson selig werden’. Der einzige Maßstab, den die diversen brandenburgisch-preußischen Herrscher hinsichtlich des Werts oder Unwerts der Menschen kannten, war deren Nützlichkeit für deren Staat. Das war in erster Linie eine Frage ihrer wirtschaftlichen Tüchtigkeit und Steuerkraft, aber es gehörte auch dazu, dass sich die unterschiedlichen Nationalitäten und Konfessionen nicht ständig mit-einander stritten, sondern Ruhe hielten und sich ganz der Vermehrung des Wohlstands widmeten, des eigenen wie des allgemeinen.

Das Wehgeschrei der Berliner Zünfte bei Beginn der Hugenotteninvasion, die jämmerlichen Klagen des Magistrats über die erdrückende, die Eingesessenen ruinierende Konkurrenz der ‚Fremden’; die geharnischten Proteste, nun auch schon der Hugenotten, als immer mehr Norditaliener, Wallonen, Polen, Böhmische und Mährische Brüder und schließlich viele tausend Salzburger Protestanten ins Land strömten; die dringenden Beschwerden, gemeinsam vorgetragen von den Zünften, dem Magistrat und den Oberen der Französischen Kolonie, über die wachsende Anzahl jüdischer Geschäfte, sowie die nicht minder larmoyanten Petitionen der Juden, den ‚ruinösen Wettbewerb’ der anderen betreffend – das alles ließ die brandenburgisch-preußische Regierung kalt. Die Hauptsache war für sie, dass genug Steuern einkamen, dass der Handel ‚florierte’ und dass der Hohenzollern-Staat an Wirtschaftskraft, Einwohner-zahl und Ansehen deutlich zunahm, was offensichtlich der Fall war.“

„… wobei angemerkt werden muss, dass unter den ersten drei namentlich bekannten preußischen Lokführern einer ein Hugenotten-Nachkomme namens Gérard, einer, Maxwell, ein naturalisierter Engländer war, der sich in Berlin niedergelassen und dort geheiratet hatte. Der dritte war Jakob Bernstein, Sohn des Rabbiners der jüdischen Gemeinde in Danzig; dessen Sohn Eduard wurde einer der führenden Sozialdemokraten und gehörte fast drei Jahrzehnte lang dem Reichstag an.“
Bernt Engelmann: Du deutsch? Geschichte der Ausländer in Deutschland, S. 113 f. und 127 f.

 

Effiziente Verwaltung

Das heutige Saarland „beschäftigt“ eine größere Ministerialbürokratie als es die ganze europäische Großmacht Preußen getan hat. Die Bundesrepublik bezahlt bei 1/10 der Agrarfläche eine 50 mal größere Agrarbürokratie als Preußen sie sich leistete. (Bernt Engelmann: Die Beamten, Göttingen 1992).

„Jedem das Seine“

Der preußische Staat „hatte auch eine kühle Liberalität, Gerechtigkeit und Toleranz, die für seine Untertanen deswegen nicht weniger wohltuend war, weil sie auf einer Art Gleichgültigkeit beruhte. In Preußen wurden keine Hexen mehr verbrannt, als das anderswo noch durchaus üblich war, es gab keine Zwangsbekehrungen und Glaubensverfolgungen, jeder konnte denken und schreiben was er wollte, für alle galt gleiches Recht. Der Staat war vorurteilslos, vernünftig, praktisch und gerecht. Solange man dem Staat gab, was des Staates war, gab er seinerseits ‚Jedem das Seine’.“
Sebastian Haffner: Preußen ohne Legende, Hamburg 1979, S. 86

„Auch auf dem Feld der Bildung wurden nach 1815 die Verbesserungs- und Moder-nisierungsmaßnahmen fortgeführt. Die Ausweitung und Professionalisierung der Lehrerausbildung machte rasche Fortschritte, und schon in den vierziger Jahren besuchten mehr als 80 Prozent der preußischen Kinder zwischen sechs und vierzehn Jahren eine Grundschule – eine Zahl, die in der damaligen Zeit allenfalls von Sachsen und Neuengland erreicht wurde. Entsprechend niedrig war auch die Analphabeten-quote. Das preußische Bildungswesen wurde im Ausland nicht nur wegen seiner Effektivität und der breiten Zugangsmöglichkeit bewundert, sondern auch wegen des liberalen Tons der Einrichtungen.“
Christopher Clark: Preußen. Aufstieg und Niedergang 1600–1947, München 2006, S. 468

 

Die preußischen Polen (oder die polnischen Preußen?)

„Die preußisch gewordenen Polen wurden weder als Untermenschen behandelt noch als Fremdkörper abgestoßen, sie wurden in ihrer Sprache, Sitte und Religion nicht im geringsten gestört oder belästigt; im Gegenteil, sie bekamen zum Beispiel mehr Volksschulen als je zuvor, mit Lehrern, die selbstverständlich polnisch sprechen mussten. An die Stelle der polnischen Leibeigenschaft trat die mildere preußische Erbuntertänigkeit, und alle Polen kamen in den Genuss des 1794 in Kraft getretenen Allgemeinen preußischen Landrechts, des ersten großen Schritts zur Verwirklichung des Rechtsstaatsgedankens in Europa, einer Rechtssicherheit, die sie ebenso zu schätzen wussten wie die Rheinländer, die zehn Jahre später in den Genuss des Code Napoléon kamen.“

„Germanisierung“ erst in der Bismarck-Zeit und danach. Die unabhängige preußische Justiz konnte hier und da Schlimmes verhindern.

Viele Polen wurden prominente Preußen: „Einer von ihnen erklärte später, nach 1871, traurig, Preußen hätten die Polen jederzeit werden können, Deutsche niemals!“
Sebastian Haffner: Preußen ohne Legende, Hamburg 1979, S. 86 f.

 

Die „preußischen Tugenden“ – und Untugenden

Preußen – Land der Glaubensfreiheit, erstes in Europa, Land der Judenemanzipation, wenn auch nie ganz 100 % (Offiziere, Rathenau), Land der Rechtssicherheit.
Vor allem: Staat der deutschen Industrialisierung, die fast märchenhafte nachholende Entwicklung: Ingenieurausbildung, Berufsschulen, Gewerbeordnung, Infrastruktur. Verlässliches Rechtssystem, Gemeindeautonomie, Industriezentren Berlin, Rhein-Ruhr, Schlesien, Saarland. Auch außerhalb Preußens Beachtliches: Augsburg/Nürnberg, Württemberg, Sachsen, aber wesentlich unter der preußisch geprägten Reichsverfassung (mit Zivilehe – das nebenbei).
Nur noch Japan hat die nachholende Industrialisierung im 19./20 Jahrh. geschafft.

Keine Demokratisierung, die eigentliche Ursache von Preußens Untergang. Alles Ne-gative: Standesdünkel, Adelsarroganz, Ausbeutung vor allem der Industriearbeiter, Militarismus – zugespitzt unter Wilhelm II. Bismarck, erklärter Gegner der Demokratie, immerhin, einmalig in der damaligen Welt: gesetzliche Altersversorgung und Krankenversicherung für Arbeiter und Angestellte 1883 und 1889. Unfallversicherung 1884. Witwen- und Waisenrente ab 1910. Die Sozialversicherungen – das letzte Geschenk Preußens an Deutschland. Aber gleichzeitig galt im ganzen Reich Bismarcks Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie, das von 1878 bis 1890 die politische Arbeiterbewegung illegalisierte und zu Massenverhaf-tungen und Massenausweisungen führte. Die „soziale Frage“ war mit der Sozialgesetzgebung keineswegs beantwortet.

„Was Preußen seinen Nachbarn lange Zeit unheimlich und gefährlich machte, war viel weniger sein Militarismus als die Qualität seiner Staatlichkeit: seine unbestechliche Verwaltung und unabhängige Justiz, seine religiöse Toleranz und aufgeklärte Bildung. Preußen war in seiner klassischen Epoche, dem 18.Jahrhundert, ganz einfach nicht nur der neueste, sondern auch der modernste Staat Europas. Seine Krise begann, als die Französische Revolution es in der Modernität überholte. Von da ab zeigen sich die Schwächen der preußischen Staatskonstruktion, und es beginnt die Suche nach einer neuen Legitimation, die schließlich mit einem triumphalen Selbstmord endete.“ Gemeint ist die Gründung des Deutschen Kaiserreiches mit dem König von Preußen als Deutscher Kaiser 1871.
Sebastian Haffner: Preußen ohne Legende, Hamburg 1979, S. 9 f.

 

Zu guter Letzt

„Friedrich der Große wehrt 1740 einen evangelischen Vorstoß gegen die katholische Schule in Glogau mit der berühmten Bemerkung ab: ‚Die Religionen müssen alle tolerieret werden, und muss der Fiskal nur das Auge darauf haben, dass keine der anderen Abbruch tue, denn hier muss ein jeder nach seiner Fasson selig werden.’ Und im gleichen Jahr heißt es auf eine Anfrage des Generaldirektoriums, ob ein Katholik das Bürgerrecht erwerben dürfe: ‚Alle Religionen sind gleich und gut, wenn nur die Leute, so sie professieren, ehrliche Leute sind. Und wenn Türken und Heiden kämen und wollten das Land peuplieren, so wollen wir ihnen Moscheen und Kirchen bauen. Ein jeder kann bei mir glauben was er will, wenn er nur ehrlich ist.’“
Christian Graf von Krockow: Warnung vor Preußen, Berlin 1993, S. 153

„Die Kargheit und Nüchternheit Preußens steht ohnehin in jedem nur denkbaren Gegensatz zur Pomp- und Rauschhaftigkeit, zur Theatralik, Ideologiebesessenheit und unaufhörlichen Selbstfeier der Nationalsozialisten. Deshalb kann man den 20. Juli 1944 eine letzte, ehrenvolle und tragische Verzweiflungstat aus preußischem Erbe nennen, während der „Tag von Potsdam“ am 21. März 1933 pures Schmierentheater war. Der Kontrast lässt sich sogar mit Zahlen belegen: Von den 500 ranghöchsten Nationalsozialisten und SS-Führern stammten nur 17, also 3,4 Prozent, aus Preußen. Nach der statistischen Wahrscheinlichkeit, gemessen am Bevölkerungsanteil am Deutschen Reich, hätten es aber 328, also fast zwei Drittel sein müssen. Bayern, Ös-terreicher und Auslandsdeutsche waren dagegen weit überrepräsentiert. Auch die Namensgebungen der zahlreichen SS-Divisionen spiegeln den Sachverhalt; keine einzige erinnert an Preußen.“
von Krockow, S. 61 f.

Daniel Nikolaus Chodowiecki: Der Große Kurfürst empfängt die Flüchtlinge in seinen Landen. Eine große farbige Kopie hängt im Foyer des bekannten Hugenotten-Museums Musée du Désert in Mialet, Département Gard.
Der berühmte preußische Kupferstecher, Graphiker und Illustrator Chodowiecki hatte polnische und hugenottische Vorfahren.

 

Anhang

„Das altpreußische Beamtentum hatte seit Mitte des 18. Jahrhunderts auf einer Reform des bürgerlichen Status und einer Erziehung des einheimischen Judentums bestanden, und dies unabhängig von wirtschaftlichen Sonderleistungen und ganz unbeeinflusst von Gründen der Staatsräson. Es entwickelte sich hier unter der Herrschaft des aufgeklärten Despotismus eine Sympathie zwischen zwei Gruppen, die beide gleichermaßen außerhalb des gesellschaftlichen Körpers der Nation und unter der direkten Protektion des Staates standen, eine Sympathie, die nachträglich leicht zu verstehen zu sein scheint, die aber in keinem anderen Lande eine solche Rolle gespielt hat. Sie war eine an sich nicht weiter wichtige, aber für die spätere Assimilation der preußischen Juden bedeutsame Nebenerscheinung der größten Leistung des preußischen Staates, der Erziehung einer wirklich nur dem Staat ergebenen und von allen gesellschaftlichen Interessen ganz unabhängigen Beamtenschaft.“

Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 50