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September | 2006

Glaubenssätze als Allheilmittel:


Neoliberale Heilkunde

 

Überarbeitete Fassung eines Artikels für eine kleine Freiburger Akademiker-Zeitschrift

Die Artikel von Michaelis und Werner in der letzten Ausgabe behandeln die Kernfragen der Gestaltung von Gegenwart und Zukunft unserer Gesellschaft, unserer Kinder und Enkelkinder. Um eine wachsende Zahl von Kindern steht es schlecht hierzulande. Mehr als 2,5 Mio. leben in Deutschland auf Sozialhilfeniveau, wie die Bundesagentur für Arbeit kürzlich mitteilte. Die Zahl der Kinder, die unter unseren Augen in Armut leben müssen, hat sich seit 2004 mehr als verdoppelt (Berliner Zeitung/BLZ vom 27.7.06). Ich halte diesen Zustand für absolut inakzeptabel und für menschlich unerträglich. Mit seiner Duldung zerstören wir nicht nur die Lebenschancen, das „Recht auf Glück“ dieser Kinder, sondern wir verspielen damit auch die (Über-)Lebenschancen und das Glück unseres Landes. Wie überwinden wir einen gesellschaftlichen Zustand, der zu solchen Verwerfungen führt? In dieser Zielsetzung mich mit den beiden Autoren einig wissend, nehme ich hier zu einigen ihrer Ansichten Stellung.

 

Das Fundamentalrezept: Kündigung des contrat social

Was sind die Ursachen der rasch zunehmenden Armut und ihrer Begleiterscheinungen? In erster Linie die lang andauernde hohe Arbeitslosigkeit, die strukturelle Unmöglichkeit für Millionen Menschen, ihren Lebensunterhalt, der natürlichen Bestimmung des Menschen gemäß, durch eigene Tätigkeit zu gewährleisten. Den eigentlichen Absturz bewirkt die parallele, von den Eliten in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft gemeinsam getragene Aufkündigung der Solidargemeinschaft und einer an sozialer Gerechtigkeit orientierten Politik – gerade dann, wenn unser Sozialsystem von höchstem gesellschaftlichen Nutzen wäre, wird es demontiert. Die Begründung ist bekannt: Deutschland kann sich das Sozialsystem ökonomisch nicht mehr leisten, und ohnehin ist es humaner, wenn jedes Individuum „eigenverantwortlich“ in allen Lebensbereichen für sich selbst sorgt.

Die Begriffe Solidargemeinschaft und soziale Gerechtigkeit kommen in den Texten von Michaelis und Werner explizit nicht vor. Dennoch enthalten ihre Ausführungen Angriffe auf das, was unter diesen Postulaten in anderthalb Jahrhunderten in unserem Land mit Sorgfalt und Mühe – und mit weltweit bewundertem Erfolg – geschaffen wurde. Es ist richtig, dass “soziale Gerechtigkeit” wie “Gerechtigkeit” allgemein kein wissenschaftlicher Begriff ist, und dass damit also kein eindeutig zu definierender Zustand bezeichnet ist. Trotzdem existieren in jeder Gesellschaft ziemlich feste Vorstellungen über das, was gerecht ist und was nicht. Es besteht so etwas wie ein allgemeines Empfinden, mit Abweichungen gemäß der jeweiligen Interessenlage. Das in der Gesellschaft dominante Verständnis von Gerechtigkeit ist wesentlicher Teil des gesellschaftlichen Konsenses, ist Basis der Zustimmung aller Schichten und der großen Mehrheit der Individuen zu der bestehenden Gesellschaft. Damit wird die Gerechtigkeit zu einer realen Kraft, zur materiellen Gewalt – und als solche zwingend auch zum Gegenstand seriöser Gesellschaftswissenschaft.

Die Sozialwissenschaft kennt die Verteilung von Vermögen und Einkommen in Deutschland (und in der Welt), und sie weiß, dass diese Verteilungen von der Mehrheit als nicht gerecht, vielfach sogar als obszön empfunden werden. Einkommens- und Vermögensverteilung sind extrem ungleich. Im Gegensatz zu “gerecht” ist „ungleich“ ein sehr konkreter Begriff, ein mathematischer. Als Messinstrument benutzt die Statistik u.a. die Lorenzkurve: diejenige vor dem Staatseingriff, die die Verteilung durch die bei uns herrschende Form der Marktwirtschaft (Primärverteilung), und diejenige, die die Verteilung nach Steuern und Transfers abbildet (Sekundärverteilung). Die zweite Lorenzkurve verläuft flacher als die erste, die Sekundärverteilung ist “gleicher”. Die ganz überwiegende Mehrheit der Bevölkerung meint bzw. fühlt, dass es zu den wesentlichen Aufgaben des Staates, ihres Staates, gehört, die Primärverteilung in Richtung größerer Gleichheit, für sie identisch mit größerer Gerechtigkeit, zu korrigieren. Das meint die Mehrheit insbesondere in einer Zeit stark zunehmender Ungleichheit der Primärverteilungen. Die Umverteilung durch den Staat wird als Recht empfunden, als konstitutiver Bestandteil des contrat social, das Vertrauen in diese Umverteilung ist identisch mit dem Vertrauen in den Staat. Gemeint ist selbstverständlich die Umverteilung von oben nach unten, und nicht, wie gegenwärtig von Wirtschaftseliten und politischer Klasse praktiziert, diejenige in entgegengesetzter Richtung.

Wichtig ist, dass Umverteilung sich nicht im direkten Transfer von Geld erschöpft, Umverteilung meint auch das Öffnen von Berufs- und Lebenschancen für alle, meint auch den „gleichen“ Zugang zu öffentlichen Gütern von hoher Qualität (sie meint also auch deren zuverlässig fortbestehende Existenz als eine Voraussetzung für Umverteilung), sie meint im Kern den Respekt gegenüber allen als gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft, meint Grundgesetz als soziale Praxis. Wenn sich die von Erwerbseinkunft, Eigentum und den Chancen zu seinem Erwerb ausgeschlossenen Menschen hier betrogen fühlen, kündigen sie ihrerseits Schritt für Schritt den contrat social. Dieser Prozess läuft bereits ab, besonders anschaulich zu erkennen in den Ballungsgebieten unseres Landes, so hier in Berlin, einem so genannten sozialen Brennpunkt. Ich übernehme zur Bezeichnung dieses Prozesses den Begriff soziale Verwahrlosung. Grässliche Graffiti an einem soeben mit sehr viel öffentlichem Geld restaurierten historischen Repräsentationsbau: wie kann der sich betrogen und ausgeschlossen Fühlende deutlicher zeigen, dass der öffentliche Raum, die staatliche Repräsentation, Geschichte und Schicksal des Landes und der Stadt, seine Sache nicht mehr sind? Hier tritt bereits die Abkehr von unserem Rechtssystem als verbindliche Verhaltensregel in Erscheinung. Wenn die Sozialabbauer so weiter machen, gehen die Ausgeschlossenen ebenfalls weiter, Schritt für Schritt, bis zum qualitativen Sprung – wie kürzlich in Frankreich. Dann werden unsere Eliten ihren Sarkozy schon finden, aber er wird ihnen auf Dauer nicht viel nützen können. Auch wenn sie mit ihren Machtmitteln “Ruhe und Ordnung” zunächst wieder hergestellt haben, bleibt das Gemeinwesen im Kern zerstört, der contrat social existiert nicht mehr. Auf der Flucht vor Verwahrlosung, Drogen, Kriminalität und Terror bleiben den Eliten am Ende nur „gated communities“ oder ähnliche Rückzugsgebiete. Aber seien wir gewiss, wie bezüglich der Zerstörung unserer Zivilgesellschaft durch die Nazibarbarei wird spätestens die Enkelgeneration fragen, wer und welche Politik uns das eingebrockt haben.

 

Psychotherapie: Leiste mehr, und du bekommst mehr

Die Enkel werden sich aus eigener Erfahrung nicht mit der Ideologie der Leistungsgesellschaft abfinden, nach der in einer sich den „Kräften des Marktes“ ohne Sozialsystem anvertrauenden Gesellschaft jeder das Äquivalent seiner Leistung erhält, sie werden die Strategie des Sozialabbaus und der dauerhaften, sich zwingend vererbenden Ausgrenzung wachsender Bevölkerungsteile als Standespolitik erkennen, geprägt von undemokratischem Machtwillen, von Habgier und vom Neid der Eliten auf diejenigen, die angeblich Geld, oder doch zu viel Geld erhalten, ohne dafür (genug) arbeiten zu müssen. Wir alle wissen, dass die Einkommen der Spitzenverdiener nicht selten die Grenze von 10 Mio. € jährlich weit überschreiten. Bei den Beziehern handelt es sich um die selben Personen, die den Sozialabbau allgemein und von “ihren” Arbeitnehmern im besonderen Lohnverzicht, unbezahlte Mehrarbeit und die Übernahme des Arbeitgeberanteils an den Sozialabgaben fordern, um die selben, die trotz stark steigender Gewinne – und Gratifikationen für sie selbst – Jahr für Jahr Zehntausende Arbeitsplätze verschwinden lassen. Das genau ist es, was von arbeitenden und Arbeit suchenden Menschen als obszön empfunden wird. Leistungsgesellschaft? Pure Ideologie, also Rechtfertigung sozialer Herrschaft. Ich konnte ausgiebig eine Frau beobachten, deren Berufsarbeit entsprechend ihrer Qualifikation darin besteht, geistig und körperlich Behinderte zu betreuen, und zwar erwachsene bis alte Menschen. Aus meiner Sicht eine geradezu fürchterliche Aufgabe. Die Frau arbeitet ständig an ihren physischen und psychischen Grenzen, ohne während meiner Beobachtung jemals die Geduld zu verlieren, ohne jemals in ihrer Aufmerksamkeit gegenüber diesen benachteiligten Menschen nachzulassen. Ihr Arbeitgeber Caritas vergütet ihr diesen Einsatz mit ca. 1.800 € brutto monatlich. Legt man das Weihnachtsgeld um, kommt sie auf knapp 2.000 € brutto, macht 24.000 € im Jahr. Ein Manager mit 10 Mio. € brutto jährlich erhält also das 416,7fache. Inwiefern leistet dieser Manager 416,7 mal so viel wie eine Betreuerin von Behinderten? Ich habe diese Frage schon manchem Repräsentanten der Fraktion “Wir können uns den Sozialstaat nicht mehr leisten” und “Die Einkommen müssen wieder der Leistung entsprechen” gestellt. Eine plausible Antwort habe ich bisher nicht bekommen.

Von Michaelis als Oberfinanzpräsident a.D. hätte ich zumindest erwartet, dass er ein Wort zum Thema Steuerehrlichkeit findet. Die Deutsche Bank wurde vor einiger Zeit zur Zahlung einer Strafe von ca. 35 Mio. € verurteilt, weil sie wohlhabenden Bürgern zur Steuerflucht verholfen hat – die Spitze des Eisbergs: „Der Schaden, der dem Staat jährlich durch Steuerhinterziehung (und nicht gezahlte Sozialabgaben) entsteht, beläuft sich auf rund 200 Mrd. Euro – und abgesehen von Bußgeldern haben die Täter keine Bestrafung zu fürchten“, (BLZ 10.6.06). Dazu die Verschwendung und persönliche Aneignung von Steuergeldern, besonders krass derzeit in Berlin. Die Hauptakteure des Berliner Bankenskandals Decken, Landowsky, Rupf haben Land und Bürgern einen Schaden von bisher 10,5 Mrd. € zugefügt, der sich um weitere 5 Mrd. € erhöhen kann. Während die Bürger immer mehr Einschränkungen bei den öffentlichen Gütern hinnehmen müssen, bei steigender Steuer- und Gebührenlast, bezieht der wegen Bilanzfälschung rechtskräftig verurteilte Decken eine monatliche Pension von 19.020 €, Rupf von 30.000 € und Landowsky von ca. 19.000 € (Bericht des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses, BLZ 3.6.06). Die Menschen in unserem Land, auch die armen, nehmen das sehr aufmerksam zur Kenntnis – und reagieren spontan empört, und dann, weil sich nichts ändert und sie nichts ändern können, deprimiert. Was bleibt ihnen sonst?

Die weit geöffnete und sich weiter öffnende Schere von hohen und niedrigen Ein- kommen hat ernste sozialpsychologische Folgen. Die für viele unbegreifbar hohen Einkommen der Spitzenverdiener entmutigen die Menschen, sie erzeugen in ihnen ein Gefühl der Ohnmacht, sie fühlen sich verlassen, chancenlos, gesellschaftlich minderwertig. Im krassen Gegensatz dazu die eigene Armut und Hoffnungslosigkeit. Psychische Erkrankungen, Verzweiflungstaten, Suizide nehmen zu. Der Mannesmannskandal war ein Schock, ein Bruch in der Identifizierung mit unserer Gesellschaft. Nach nur 1 1⁄2 Jahren „Arbeit“ 60 Mio. DM Abfindung für die Vernichtung eines über Generationen weltweit erfolgreichen deutschen Unternehmens! Wie hoch ist die Abfindung eines Facharbeiters, einer gelernten Verkäuferin nach 20, 30 Jahren disziplinierter, produktiver Tätigkeit für “ihr” Unternehmen? Leistungsgesellschaft? Spätestens hier haben viele begriffen, dass dieses Etikett ein Etikettenschwindel ist.

 

Allheilmittel Wachstum

Zwei der drei “wichtigsten Alarmsignale” der deutschen “Krise” von Michaelis betreffen das angeblich fehlende Wirtschaftswachstum. Er unterzieht sich aber nicht der Mühe, sich zu fragen, ob Wachstum überhaupt Arbeitsplätze bringt. Deutschland hatte ja immer Wachstum, zuletzt ein geringes zwar, aber doch Wachstum – auf sehr hohem Niveau. Und das hat erwiesenermaßen netto keine Arbeitsplätze gebracht, ganz im Gegenteil. Zwischen 1991 und 2003 ist das BIP im vereinigten Deutschland real um ca. 22 % gestiegen. Gleichzeitig sank jedoch die Zahl der Erwerbstätigen um 3,4 % (http://www.destatis.de).

Ein um mehr als ein Fünftel größeres Sozialprodukt wurde also von knapp 1,3 Mio. weniger Menschen erwirtschaftet. Ich hatte vor ein paar Jahren mit meinen Studenten den deutschen Maschinen- und Anlagenbau, unsere Exportbranche Nr. 1, über einen längeren Zeitraum genauer betrachtet. Ergebnis: hohe Investitionen, hohes Wachstum, gemessen am Umsatz, gleichzeitig gewaltiger Abbau der Beschäftigten. Dieser Trend hat sich bis heute fortgesetzt, und gilt qualitativ für alle Branchen, die moderne Technologie einführen. Kürzlich meldete das Statistische Bundesamt für das 1. Halbjahr 2006 ein Umsatzwachstum der deutschen Industrie von 6,8 %, bei gleichzeitigem Rückgang der dort Beschäftigten um 1 % (BLZ v. 17.8.2006). Wie hoch muss denn nun das Wachstum des BIP sein, damit „alle von den Reformen profitieren” können (Michaelis), und was muss denn wachsen und was nicht? An welchen Gütern fehlt es uns denn so sehr, dass alle Politiker, “führenden” Wissenschaftler, die allermeisten Journalisten und das Heer der Nachplapperer (einschließlich Oskar Lafontaine) so lautstark, so penetrant und ohne faktengestützte Begründung nach Wachstum schreien müssen? Die Rabatt-, Finanzierungs- und Schnäppchenschlachten und die aufwendige und aggressive Werbung lassen doch eher auf Überkapazitäten und große Lagerbestände schließen.

Ist es nicht vielmehr so, dass Wachstum in wichtigen Branchen tendenziell Arbeits-
plätze beseitigt, da es sich vor allem über Investitionen vollzieht? Und Investieren bedeutet angesichts gesättigter, zumindest begrenzt aufnahmefähiger Märkte und eines rasanten technischen Fortschritts vor allem Ersetzen einer alten, weniger produktiven durch eine neue, produktivere, also menschliche Arbeit “freisetzende” Technologie. Die deutsche Volkswirtschaft hat offensichtlich vor allem ein Nachfrageproblem, woran uns ein Abflauen der Weltkonjunktur und der daraus resultierende Rückgang der deutschen Exporte schmerzlich erinnern werden.

Wie dargelegt, wuchs die deutsche Wirtschaft in den letzten Jahrzehnten fast ununterbrochen, und stets von einer höheren Basis aus. Von 1995 bis 2002 wuchs das BIP jährlich im Durchschnitt um 1,6 % (Fischer Weltalmanach 2005). Bei einem BIP von aktuell etwa 2.300 Mrd. € ergibt das einen Zuwachs an Gütern und Dienstleistungen im Wert von knapp 37 Mrd. € pro Jahr, womit doch wenigstens der Status quo im Lebensstandard aller und das Niveau der Versorgung mit öffentlichen Gütern zu halten sein müssten. Aber wo ist dieses Mehr Jahr für Jahr geblieben? Bei den Arbeitnehmern, und damit bei der Masse der Bevölkerung, gewiss nicht: „Trotz eines Anstiegs der Arbeitsproduktivität in den Jahren 2000 bis 2005 um 6 % sind die Bruttolöhne und -gehälter … real um 3 % zurückgefallen mit der Folge eines praktisch stagnierenden privaten Konsums (+2 %)“ (http://www.jjahnke.net/rueckspiegel.html). Im überwiegend sehr krassen Gegensatz zu den meisten Industrieländern sind in Deutschland die Reallöhne zwischen 1995 und 2004 um 0,9 % gesunken (USA + 19,6, Frankreich + 8,4, Schweden + 25,4, alte EU + 7,4 %. BLZ 24.8.06). Seit längerem sinkt auch die Lohnquote, also der Anteil der Bruttoeinkommen aus unselbständiger Arbeit am Sozialprodukt. Wen wundert es, dass sich die meisten deutschen Unternehmen mit einem Absatzproblem konfrontiert sehen und ihre Kapazitäten nicht auslasten können? Die von Werner für notwendig gehaltene weitere Senkung der Löhne wirkt kontraproduktiv, weil sie das Absatzproblem vergrößert, einen weiteren Verlust von Arbeitsplätzen verursacht und das Wachstum hemmt.

 

Noch ein Wundermittel: Rückbau des Staates

„Wäre es … nicht das Beste, wenn sich der Staat völlig zurückzieht, die Bürger in Ruhe arbeiten lässt und ganz auf die Kräfte des Marktes vertraut? Was wäre so schlimm daran, wenn der Staat als Aufgabe nur noch die innere und die äußere Sicherheit besorgt?“ Mit diesem, schonend gesagt, recht schlichten Glauben an den neuen Gott: „die Kräfte des Marktes“ kann es sich Werner im aktuellen Mainstream richtig bequem machen. Die Wahrheit schwimmt auch hier gegen den Strom: Der Rückzug des Staates ist der Vormarsch der Barbarei. Eine banale Frage an Werner: Möchtest Du wirklich in einem Land leben ohne Lebensmittelgesetze, ohne zwingend vorgeschriebene technische Sicherheitsnormen, ohne staatlichen Schutz vor Anlagebetrug? Und ohne staatliche Garantie für Gewährleistung und Produkthaftung der Wirtschaft? In einem Staat ohne Zuständigkeit für die Infrastruktur, der also keine Verkehrswege, keine Schulen und Universitäten mehr erstellt, nicht mehr verantwortlich ist für die Versorgung aller Bürger mit Wasser, Energie und Telekommunikation? In einem Staat ohne Auflagen für die Wirtschaft zum Schutz unserer Natur? Wie sähen unsere Flüsse und Seen wohl heute aus ohne Staat? Möchtest Du wirklich in einem Staat leben ohne öffentlich-rechtliche Regelung des Abfallproblems, also ohne Verbot „privater“ Mülldeponien? In einem Staat ohne verbindliche Regelungen für den Unfallschutz und die Gesundheit der arbeitenden Menschen? Und der Menschen in den Gebäuden und auf den Straßen, also auch ohne verbindliche Regeln für den Schutz unserer Kinder, z.B. hinsichtlich der Verkehrssicherheit von Schulbussen?

Ich vertrete nicht die Ansicht, dass es unbedingt und für alle Zeiten seine Hoheit der Staat sein muss, der für alle diese nützlichen Dinge sorgt. Auch mir gehen Hoheitsgebaren und Gängelung auf die Nerven. Meine Vision, mein Traum heißt „freie Assoziation freier Bürger“. Aber eben Assoziation. Der Markt kann das alles nicht leisten, man tut ihm geradezu Unrecht, das von ihm zu fordern. Der Markt braucht Regeln. Er braucht bis heute den Staat sogar zum Schutze seiner selbst: Da er aus seiner eigenen Logik und Dynamik heraus zum Monopol drängt, muss der Staat seit jeher für Wettbewerb sorgen, also dafür, dass sich die „Kräfte des Marktes“ überhaupt halbwegs entfalten können. Werners Sicht des Marktes und seine Vision einer Wirtschaft ohne gesellschaftliche Normen und Regeln fallen weit hinter die Erkenntnisse der liberalen Klassiker der Nationalökonomie zurück.

Was die Klassiker aber nicht gesehen haben: Die Summe aller betriebswirtschaftlichen Optima ergibt nicht „von selbst“ das volkswirtschaftliche Optimum. Für den Betrieb mag es sinnvoll sein, seine Kosten, also auch die für sein Personal, zu senken, so weit das möglich ist. Aber volkswirtschaftlich resultiert daraus eine zu geringe Nachfrage, so dass das Optimum „Gleichgewicht bei Vollbeschäftigung“ verfehlt wird. Das Ungleichgewicht schlägt auf die Betriebe zurück: Sie können ihre Waren nicht im betriebswirtschaftlich erforderlichen Umfang absetzen und ihre Kapazitäten nicht auslasten. So ist es auf Dauer geradezu eine Existenzbedingung für die Unternehmen, dass der Staat ein bodenloses Drücken der Löhne und Gehälter verhindert, etwa durch die Garantie der Tarifautonomie, die Regulierung der Arbeitskonflikte, die Einführung von Mindestlöhnen, die Beteiligung der Arbeitgeber an den Sozialversicherungen der Arbeitnehmer, aber auch durch Regelungen wie Krankengeld, durch die Förderung betrieblicher Pensionskassen usw.. Auch auf diese Weise macht der Staat einen langfristig funktionierenden Markt überhaupt erst möglich.