Gliederung
1. Die Finanzierung der NSDAP, insbesondere des Wahlkampfes zur Reichstagswahl am 14. September 1930
2. Das Wirtschaftsprogramm der NSDAP von 1932 (Straßer-Programm) und seine Verbreitung in der deutschen Bevölkerung
3. Zur Finanzlage der NSDAP im Wahljahr 1932
3.1. Straßer und die Ruhrindustrie
3.2. Zwischen den Reichstagswahlen vom 31. Juli und vom 6. November 1932
3.3. Nach der Reichstagswahl vom 6. November 1932
3.4. Einfluss von „Kreisen der Ruhrindustrie“?
3.5. Die „Industriellenabgabe“
3.6. Nach der Machtübergabe
4. Was uns diese Fakten sagen
5. Warum haben die Großunternehmen die NSDAP vor 1933 nicht finanziert?
6. Belohnte Gefolgschaft?
6.1. Steuermilde für die Massen
6.2. Steuerhärte gegen die Bourgeoisie
6.3. Sondersteuer für Hausbesitzer
6.4. Abschöpfung der Profite
6.5. Instrumentalisierung – gegenseitig?
7. Die Perspektive: „Volksstaat“ ohne Konzernmacht
7.1. Die Macht über die Investitionen. Ausbau des NS-staatlichen Sektors in der Schwerindustrie
7.2. „Endlösung“ und „Generalplan Ost“
7.3. Hitler befiehlt „verbrannte Erde“
8. Material zu den gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Auffassungen Hitlers und der Wirtschaftspolitischen Abteilung der NSDAP-Führung
9. Anhang 1: Volksgemeinschaft im NS-Film
10. Anhang 2: Zur Fehlleistung, den Nationalsozialismus unter „Faschismus“ zu subsumieren
11. Anhang 3: Ernst Ottwalt: Deutschland erwache! Geschichte des Nationalsozialismus, 1932
Literatur
1. Die Finanzierung der NSDAP, insbesondere des Wahlkampfes zur Reichstagswahl am 14. September 1930
In Arbeit; überwiegend nach H. A. Turner: Die Großunternehmer und der Aufstieg Hitlers, Berlin 1985 und nach H. A. Turner (Hg.): Hitler aus nächster Nähe. Aufzeichnungen eines Vertrauten (Otto Wagener) 1929–1932, Ullstein 1978
Vorab der Bericht eines zeitgenössischen Journalisten, sowie ein Zeugnis auf Basis des Berichts eines Akteurs:
„Wer hat nun diesen ganzen Rummel vor den Wahlen, ohne den der Sieg (der NSDAP bei der Reichstagswahl vom 14. September 1930, B.S.) nie so groß geworden wäre, eigentlich bezahlt? Da wird von Industriekapitänen, von Exzellenzen, von kaiserlichen und königlichen Hoheiten, von Italien, ja sogar von Russland erzählt. Wahr wird manches daran sein; aber selbst wenn Mussolini, Herr Mutschmann, Prinz X von X und andere tief in die Brieftasche gelangt haben sollten, diese Unsummen konnten von so wenigen niemals aufgebracht werden, besonders seit die Quelle Kirdorf versiegt zu sein scheint. Des Rätsels Lösung? Die Mitglieder und Anhänger haben bluten müssen. Mehrmals war der Sportpalast in Berlin bis unter die Decke gefüllt, jedesmal musste pro Nase, ob grade oder krumm, eine Mark geblecht werden. Das macht an einem Abend fünfzehntausend Mark. Einmal hat der Reklamechef des Hauses Hitler seine weibliche Zuhörerschaft derartig aufgekratzt, dass sie in kurzer Zeit dreißigtausend Mark zur Deckung der Wahlunkosten aufbrachte. In anderen Städten, draußen im Lande, ist es ähnlich gewesen. Das sind in der Hauptsache die Geldquellen, und der Erfolg: einhundertsieben Abgeordnete.“
Quietus (Walther Karsch): Die Zukunft des Nationalsozialismus, in Die Weltbühne, II. Halbjahr 1930, S. 478
Martin Mutschmann, Unternehmer und NSDAP-Gauleiter von Sachsen 1925–1945.
Emil Kirdorf: https://de.wikipedia.org/wiki/Kirdorf
„Auf Vermittlung des Fraktionschefs der sächsischen NSDAP Manfred von Killinger machte Dressler (mittelständischer Zigarettenfabrikant) dem in München lebenden SA-Stabschef Otto Wagener den Vorschlag, dass die SA bei ihren Mitgliedern darauf drängen sollte, sie sollten nur diese Marken rauchen. Die wegen der vermutlich eingesparten Werbegelder hohen Gewinne wollte Dressler anteilig der SA-Führung zur Verfügung stellen. Diese Idee fanden Wagener und die NSDAP interessant, denn die SA hatte bis dahin kaum eigene Einkünfte und hing am Tropf der NSDAP (die ebenfalls kein Geld hatte, B.S.). Daher steuerten Wagener und die NSDAP-Führung sogar Gelder für die Errichtung der Fabrik bei. Da die NSDAP nur 30.000 Reichsmark aufbringen konnte, wurde ein Unternehmer aus Dresden zur Unterstützung des Unternehmens gewonnen. Der Freund der NSDAP und Gründer des Bahnhofsbuchhandels Jacques Bettenhausen aus Dresden sprang mit einer Summe von 500.000 Reichsmark ein. Im Handelsregister stand der Name des Gründers Dressler, für die Vermarktung wurde die „Zigarettenfabrik Sturm GmbH“ gegründet. Die SA-Führung setzte durch, dass die SA-Männer nur Zigaretten der Marke Sturm rauchten. Der Konsum anderer Zigaretten wurde verboten.“ (1929)
Bis 1934 waren die jährlichen Zahlungen Dresslers an die SA auf 250.000 RM gestiegen.
https://de.wikipedia.org/wiki/Cigarettenfabrik_Dressler
„Nach seinem bolivianischen Intermezzo wurde Röhm von Hitler 1931 erneut an die Spitze der SA geschoben, die damals bereits über 88.000 Mitglieder im ganzen Land verfügte.
Seit 1926 uniformierten sich die SA-Männer mit braunen Uniformen, die sie selbst bezahlten und über einen SA-eigenen Fanartikelshop beziehen mussten. Den belieferte der Textilindustrielle Hugo Boss (Metzingen), die Lederwarenfabrik Breuninger (Schorndorf) sowie der Zigarettenfabrikant Schnur, ein Strohmann des damaligen „Tabakkönigs“ Philipp F. Reemtsma. Die drei Industriellen leisteten im Gegenzug Spenden an die SA.“
Rezension zu Daniel Siemens: „Sturmabteilung. Die Geschichte der SA“, München 2019, in taz vom 27.7.2019
Wagener: „Meine erste und grundlegende Aufgabe war gelöst. Im Jahr 1930 konnten für die höheren SA-Führer bereits Kraftwagen beschafft werden, und die Intendantur gewann für ihre Arbeit Stoff und Inhalt,“ S. 62.
SA-Intendantur:
„finanzielle Verwaltung sämtlicher SA-Mittel und die Prüfung der Abrechnungen bis hinunter zum Sturm“, und „Zeugmeisterei, um jedem SA-Mann die gleichmäßige Beschaffung seiner Ausrüstung zu ermöglichen,“ S. 60.
„Der amerikanische Historiker Henry A. Turner belegt, dass die Bewegung Hitlers im wesentlichen von der Gläubigkeit und Opferbereitschaft der eigenen Anhänger getragen wurde“, Klappentext.
Turner/Wagener, a.a.O.
„Die Großindustrie, die entgegen landläufiger Meinung den Machterhalt Hitlers nicht finanziert hatte (ihr durch Spenden ausgedrücktes Wohlwollen war in erster Linie den bürgerlichen Rechtsparteien, allen voran der DNVP, zugeflossen) arrangierte sich rasch und gern mit dem Nationalsozialismus.“
Wolfgang Benz: Geschichte des Dritten Reiches, München 2000, S. 101
2. Das Wirtschaftsprogramm der NSDAP von 1932 (Straßer-Programm) und seine Verbreitung in der deutschen Bevölkerung
(in Arbeit; überwiegend nach Kissenkoetter, Turner, NBER)
NBER-Untersuchung, eingefügt, weil der Text dokumentiert, dass die NSDAP eine sehr effektive Wahlkampfhilfe erhielt, für die sie keinen Pfennig zahlte:
Austerity and the rise of the Nazi party
Gregori Galofré-Vilà, Christopher M. Meissner, Martin McKee, David Stuckler
NBER Working Paper No. 24106
Issued in December 2017
NBER Program(s):Development of the American Economy
„In 1928 the German Nazi party gained just over 2 percent of the votes in the general federal elections. By mid-1932 it received 38 percent of votes becoming the largest political party in the Reichstag. How did this shift to the extreme far-right happen so quickly?“
„Der gegenwärtige historische Konsens über die wirtschaftlichen Ursachen des unaufhaltsamen nationalsozialistischen Wahlerfolgs zwischen 1930 und 1933 deutet darauf hin, dass dies weitgehend mit dem Vertrag von Versailles und der Großen Depression (hohe Arbeitslosigkeit und finanzielle Instabilität) zusammenhängt. Diese Faktoren können jedoch nicht in vollem Umfang für die Wahlsiege der Nazis verantwortlich gemacht werden. Alternativ wurde vermutet, dass kontraktive Sparmaßnahmen, (Ausgabenkürzungen und Steuererhöhungen) zu den Stimmen für die Nazi-Partei beigetragen haben, vor allem bei den Mittel- und Oberschichten, die mehr zu verlieren hatten.
Wir verwenden Wahlergebnisse aus 1.024 Bezirken in Deutschland und erfassen die Stimmen, die zwischen 1930 und 1933 für die Nationalsozialisten und rivalisierenden Kommunisten sowie für die Parteien der Mitte abgegeben wurden. Wir untersuchen, ob radikale Sparmaßnahmen, vor allem als Kombination von Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen, zum Aufstieg der Nazis beigetragen haben. Unsere Analyse zeigt, dass die Sparmaßnahmen von Bundeskanzler Brüning positiv mit steigenden Stimmenanteilen für die Nazi-Partei korrelierten. … Unsere Ermittlungen ergaben auch, dass die Zunahme der Arbeitslosenquoten mit einer höheren Stimmenzahl für die Kommunistische Partei verbunden war. … Die untersten Statusgruppen und die Arbeitslosen wandten sich den Kommunisten zu. Aber diejenigen, die in der wirtschaftlichen Hierarchie knapp oben standen und die durch die Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen mehr zu verlieren hatten, haben die Nazis favorisiert. Keynes warnte nach einem Treffen mit Brüning 1932: „Deutschland befindet sich heute in den Fängen der mächtigsten Deflation, die eine Nation je erlebt hat. … Viele Menschen in Deutschland haben nichts, worauf sie hoffen können – nichts als eine ,Veränderung‘, etwas völlig Vages und völlig Unbestimmtes, aber eine Veränderung“.
In der Tat zeigen unsere Ergebnisse, dass Brünings Sparmaßnahmen eine beträchtliche Wirkung hatten. In Gegenden, in denen die Sparmaßnahmen sich besonders stark auswirkten, war der Stimmenanteil der Nazis signifikant höher.
Wir zeigen, dass die Sozialkürzungen die Not der deutschen Massen drastisch vergrößerten und die Entscheidung, für die Nazi-Partei zu stimmen, beeinflusst haben.“
Historische Quellen belegen, dass Hitler die Sparmaßnahmen der Regierung als Sprungbrett zur Macht betrachtete. Zwölf Tage nachdem Brüning seinen vierten und letzten Notverordnungserlass in Kraft gesetzt hatte, gab Hitler ein Flugblatt mit dem Titel Die große Illusion des letzten Notverordnungserlasses heraus, mit dem er versuchte, die Frustration der Massen zu kanalisieren, um an die Macht zu gelangen. Er schloss den Text mit den Worten: „Obwohl dies nicht die Absicht war, wird dieses Notstandsdekret meiner Partei zum Sieg verhelfen und damit den Illusionen des gegenwärtigen Systems ein Ende setzen“ (Hitler 1931). Im Mai 1932 (einen Monat vor den Wahlen vom Juli 1932) versprach ein weiteres Flugblatt mit dem Titel Notwirtschaftsprogramm der NSDAP „grundlegende Verbesserungen in der Landwirtschaft im Allgemeinen, mehrjährige Steuerbefreiung für die Siedler, billige Kredite und die Schaffung von Märkten durch die Verbesserung und Verbilligung der Transportwege“. Was das Wohlfahrtssystem betrifft, so „wird der Nationalsozialismus alles tun, um das Sozialversicherungssystem aufrechtzuerhalten, das durch das gegenwärtige System in den Zusammenbruch getrieben wurde … Wir werden unverzüglich Vorbereitungen treffen, um Punkt 15 des Parteiprogramms umzusetzen: Wir fordern eine großzügige Ausweitung der Unterstützung für Minderjährige“. … Zwischen September 1930 und Juli 1932 stieg die Zahl der Stimmen für die Nazi-Partei von 6 Millionen auf 14 Millionen: Die Gesamtausgaben in den wichtigsten Städten waren um 6 Prozent gekürzt worden. In sozialen Schlüsselbereichen wie Gesundheit und Soziales (14 Prozent), Bildung (33 Prozent) und Wohnen (38 Prozent) waren die Ausgabenkürzungen wesentlich höher. Wir ermittelten eine starke positive Korrelation zwischen den realen Ausgabenkürzungen der deutschen Regierung und den Wahlerfolgen der Nazis zwischen 1930 und Juli 1932.
Übersetzt mit Hilfe von: https://www.deepl.com/translator
3. Zur Finanzlage der NSDAP im Wahljahr 1932
Zusammengestellt aus Udo Kissenkoetter: Gregor Straßer und die NSDAP, Schriftenreihe der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Stuttgart 1978
3.1. Straßer und die Ruhrindustrie
„Die Verbindung zu Kreisen der Ruhrindustrie stellte Heinrichsbauer für Straßer und Schulz tatsächlich her. Er machte sie unter anderem mit Tengelmann (Essener Steinkohle), Brandi (Vereinigte Stahlwerke), Kanert (Gelsenberg), Vögler (Vereinigte Stahlwerke) und Springorum (Hoesch AG) bekannt. Daraus entwickelten sich gute persönliche Beziehungen, die von den Industriellen seit Frühjahr 1931 benutzt wurden, um durch persönliche Zuwendungen die Stellung der Straßergruppe in der Partei zu stärken und auf diese Weise selbst Einfluss auf die NSDAP zu gewinnen (K.s Quellen: der frühe Turner, Heinrichsbauer).
Heinrichsbauer gibt die Höhe der Zuwendungen, die bis Ende 1932 gezahlt wurden, mit etwa 10 000 RM pro Monat an. Offenbar ist dieses Geld aber zum größten Teil in mehreren zweckgebundenen Einzelzahlungen von sehr unterschiedlicher Größe zur Verfügung gestellt worden. Allerdings wurden die Zahlungen wohl zur Routine, wie sich in einigen Fällen noch nachweisen lässt. So erhielt Schulz (Mitarbeiter von Straßer, B.S.) durch Heinrichsbauer regelmäßige Benzinzuschüsse für seinen Dienstwagen. Doch wurden auch größere Summen gezahlt, und gelegentlich erfolgten die Zuwendungen sogar als Sachlieferungen … Jedoch hatten Straßer und Schulz auch frei verwendbare Summen zur Verfügung, mit denen sie in Einzelfällen auch wichtige Parteigenossen durch direkte Zuwendungen oder kleine günstige Kredite unterstützen und dadurch an sich binden konnten.“ (S. 126)
3.2. Zwischen den Reichstagswahlen vom 31. Juli und vom 6. November 1932
„Die einzige Frage, die in der Parteiführung klar gesehen wurde, lautete denn auch, ob die Partei einen fünften großen Wahlkampf innerhalb eines Jahres organisatorisch und vor allem auch finanziell durchstehen würde.“ (S. 155)
„Der Wahltermin wurde am 19. September auf den 6. November festgelegt. Zu dieser Zeit war die Partei schon längst wieder in voller Wahlkampftätigkeit. Zwar machten die finanziellen Schwierigkeiten große Sorgen, da ´die vergangenen Wahlkämpfe alles verfügbare Geld verschlungen haben´ (Goebbels, Tagebuch, S. 165). Jedoch half die intakte Parteiorganisation über manche Schwierigkeiten hinweg.“ (S. 157)
3.3. Nach der Reichstagswahl vom 6. November 1932
„Umso deprimierender wirkte das Resultat der Wahl vom 6. November 1932 auf die Partei und ihre Anhängerschaft. … Zudem wurden die Finanzsorgen immer größer. Schulden, die man im Wahlkampf in der Hoffnung auf einen Sieg gemacht hatte, wurden jetzt, da die NSDAP verloren hatte, härter eingetrieben und auf neue Spenden konnte nun kaum noch gerechnet werden.“ (S. 159)
„Die Depression in allen Parteigliederungen war ungeheuer (Goebbels, Tb., S. 197 ff.). Außerdem erreichte auch die Finanzlage der Partei einen äußerst kritischen Punkt. Sowohl die PO (Politische Organisation) wie die SA verschlangen immer größere Summen, dazu waren die vielen kostspieligen Wahlen gekommen. Auch eine große Anzahl von Presseorganen (der NSDAP) geriet, wiewohl hier eine gewisse Konzentration im Gange war, in finanzielle Bedrängnis.“ (S. 159)
„Am 23. März 1932 hatte Straßer über die ihm unterstellte Reichspressestelle eine Anordnung an die gesamte NS-Presse gerichtet, die sich mit dem Wahlkampf anlässlich der Reichspräsidentenwahl befasste. Die Presse wurde darin verpflichtet, und zwar sowohl die Tages- wie auch die Wochenzeitungen, etwa zwei Wochen lang ihre Ausgaben auf die dreifache Zahl zu steigern und davon zwei Drittel kostenlos der Partei für Verteilungsaktionen zur Verfügung zu stellen. … Die Zeitungen hatten diese Maßnahmen selbst, ohne zusätzliche Unterstützung von der Parteizentrale, zu finanzieren. … Die Pressekampagne war bei den beiden nächsten Wahlkämpfen in ähnlicher Form durchgeführt worden und hatte die NS-Verlage in hohem Maße verschuldet. Über die Begleichung dieser Schulden hatte man sich in Erwartung der Machtübernahme keine allzu großen Gedanken gemacht. Mit dem Beginn innerparteilicher Zweifel im Herbst und der dadurch bedingten Zurückhaltung der Kreditgeber, vielfach der Druckereien, war die Lage der NS-Presse so schwierig geworden (Otto Dietrich, Mit Hitler an die Macht, München 1934, S. 69: „Viele Blätter standen vor dem Ruin“), dass zur Wahl am 6. November eine solche Aktion nicht mehr durchgeführt werden konnte.“ (S. 160)
„Von allen Landesinspektoren forderte er (Straßer) einen ausführlichen Bericht über Ablauf des Wahlkampfes, Beobachtungen über den Stimmungsverlauf und Angabe der Gründe über das Abstimmungsergebnis an. Die Berichte von vier Landesinspektoren und einer Gauleitung liegen vor. … Für die Stimmenverluste wurden vor allem vier Gründe angegeben: … viertens wurde die ´katastrophale´ Finanzlage beklagt.“ (S. 161)
Straßer „konnte nicht verstehen, wie man die Möglichkeiten, die sich zwangsläufig aus der Situation ergaben, scheitern lassen konnte, wie dies Hitler mit seinem egoistischen Machtanspruch des ´Alles-oder-Nichts´ am 13. August (1932) getan hatte. Der günstigste Zeitpunkt war damals seiner Ansicht nach schon verpasst worden. Jetzt, nach den großen Wahlniederlagen, war die Partei noch immer die stärkste politische Kraft im Reiche, und Chancen boten sich erneut. Doch die Zeit drängte. Die Finanzlage der Partei erschien als katastrophal, die Depression in allen Parteigliederungen gefährlich, die Austritte begannen sich zu häufen, neue Wahlniederlagen drohten. (S. 164)
3.4. Einfluss von „Kreisen der Ruhrindustrie“?
„Es sind jedoch keine Beweise dafür erbracht worden, dass die Wirtschaft an Hindenburg appelliert hatte, Schleicher abzusetzen oder Hitler zum Reichskanzler zu ernennen. Ganz im Gegenteil: Der einzige quellenmäßig belegte Versuch der Wirtschaft im Januar 1933, auf höchster Ebene bei Hindenburg zu intervenieren, zielte darauf, den Reichspräsidenten vor der Einsetzung einer rechtsgerichteten Regierung unter Einschluss der NSDAP zu warnen.“ Es handelte sich um eine Intervention des Reichsverbandes der Deutschen Industrie. Henry A. Turner: Die Großunternehmer und der Aufstieg Hitlers, Berlin 1985, S. 381 f.
3.5. Die „Industrielleneingabe“
Aber hatten nicht „führende Industrielle“ am 19. November 1932, nach der für die NSDAP mit erheblichen Verlusten und für die KPD mit beachtlichen Gewinnen ausgegangenen Reichstagswahl vom 6. November, mit ihrer „Industrielleneingabe“ von Hindenburg gefordert, dass die NSDAP „führend an der Regierung beteiligt“ werde? Der einzige namhafte Industrielle, der diese Eingabe unterzeichnet hat, war Fritz Thyssen. Die „überwältigende Mehrheit der Industrie“ unterschrieb die Eingabe nicht, da sie, wie der Historiker Reinhard Neebe bereits 1981 feststellte, die Übertragung der Regierungsverantwortung auf die Nationalsozialisten entschieden ablehnte. Das belegt der Aufruf „Mit Hindenburg für Volk und Reich!“ vom 6. November 1932:
Dieser Aufruf sprach sich für die Regierung Papen, für die DNVP und gegen die NSDAP aus. Es hatten insgesamt 339 Persönlichkeiten unterschrieben, darunter mehrere Dutzend Großindustrielle wie Ernst von Borsig, der Vorsitzende des Bergbauvereins Ernst Brandi, Fritz Springorum und Albert Vögler. Am 19. November 1932 erhielt Hindenburg eine gegenläufige Eingabe von zwanzig Industriellen, mittelständischen Unternehmern, Bankiers und Agrariern mit der Aufforderung, Adolf Hitler zum Reichskanzler zu ernennen. Hindenburg berief am 2. Dezember 1932 jedoch Kurt von Schleicher zum Reichskanzler. Der versuchte noch, Teile der NSDAP um Gregor Strasser von Hitler weg in eine Querfront zu bringen, doch dies misslang. Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Industrielleneingabe
Das Ende von Gregor Straßer, dessen Position in der NSDAP Kreise der Ruhrindustrie im eigenen Interesse mit finanziellen Zuwendungen stärken wollten, kam am 30. Juni 1934: Die Gestapo übergab Straßer „an ein SS-Kommando, das mit ihm ins Gebäude der Geheimen Staatspolizei in der Prinz-Albrecht-Straße fuhr. Bereits gefesselt, wurde er von drei mit Maschinenpistolen bewaffneten Schergen an etlichen anderen Verhafteten vorbei in eine Einzelzelle des Kellergeschosses gebracht und sofort mit mehreren Pistolenschüssen durch einen SS-Hauptsturmführer ermordet, der den Keller mit den Worten verließ: ´Das Schwein wäre erledigt.´ Die Leiche wurde offenbar an Ort und Stelle in Einzelteile zerstückelt und in mehreren blutigen Säcken weggebracht.“ (Kissenkoetter, S. 194)
„Wenn es auch viele legitime Gründe gibt, den organisierten industriellen Großkapitalismus des zwanzigsten Jahrhunderts zu tadeln, die Verantwortung für das Dritte Reich ist ihm nicht anzulasten.“
Henry A. Turner: Die Großunternehmer und der Aufstieg Hitlers, Schlusssatz, S. 426
„Wenn es der Großindustrie in beklagenswerter Weise an politischem Scharfblick mangelte, dann mangelte es ihr noch mehr an politischer Moral und Zivilcourage. Die meisten Wirtschaftsführer standen niemals in der Verlockung, Nationalsozialisten zu werden. Das Versprechen der NSDAP, die bestehende Elite zu verjagen und eine neue an ihre Stelle zu setzen, war kaum anziehend für Männer, die bereits an der Spitze ihrer Gesellschaft standen. Der plebejische Charakter des Nationalsozialismus war nicht nach ihrem Geschmack. Das gleiche galt für den Antisemitismus, denn welche Vorurteile die führenden Männer der deutschen Großindustrie auch immer hegten, diese Art des Fanatismus war in ihren Kreisen selten. … Aber nur wenige Wortführer der Großindustrie sprachen sich in der Öffentlichkeit deutlich gegen die NSDAP aus. Sie betrachteten sie nur unter dem Aspekt des Eigennutzes und erkannten nicht die Bedrohung der entscheidenden Grundlagen zivilisierten Lebens. Darin lag ihre schwerste Schuld, eine Schuld, die sie mit einem großen Teil der deutschen Elite teilten.“ Turner, S. 414
„Auch der marxistische Historiker Reinhard Kühnl meint, dass beim orthodox-marxistischen Verständnis des Aufstiegs des Nationalsozialismus‚ die Nähe zu Verschwörungstheorien nicht zu übersehen ist’“.
https://de.wikipedia.org/wiki/Gro%C3%9Findustrie_und_Aufstieg_der_NSDAP#Turner-Stegmann-Kontroverse
3.6. Nach der Machtübergabe
„Am Montag, dem 20. Februar 1933, um 18 Uhr, erschien eine Gruppe von etwa 25 Industriellen im Amtssitz von Hermann Göring … Reichskanzler Hitler wollte den Herren bei diesem Geheimtreffen seine Politik offenbaren. … Neben einer Reihe von eindeutig zweitrangigen Akteuren waren unter den Geladenen so illustre deutsche Industriekapitäne wie der IG-Farben-Vorstand Georg von Schnitzler, Gustav Krupp von Bohlen und Halbach, der durch seine Ehe mit Bertha Krupp zum Chef des Krupp´schen Eisen- und Stahlkonzerns aufgestiegen und außerdem Vorsitzender des Reichsverbands der Deutschen Industrie war, und Albert Vögler, der Vorstandsvorsitzende der Vereinigten Stahlwerke AG und damit des zweitgrößten Stahlkonzerns der Welt. Begrüßt wurden die Unternehmer von Göring und Schacht. Hitler erschien erst nach beträchtlicher Wartezeit. Aber wenn die Industriellen ein Gespräch über die kommende Wirtschaftspolitik erwartet hatten, dann wurden sie enttäuscht. Hitler zog es vor, ihnen einen allgemeinen Vortrag über die politische Lage zu halten. … Die Erfahrung der vergangenen 14 Jahre habe gelehrt, dass sich die Privatwirtschaft im Zeitalter der Demokratie nicht behaupten könne, da sie sich vor allem auf Persönlichkeit und individuelle Führungsstärke gründe, Demokratie und Liberalismus aber unweigerlich zu Sozialdemokratie und Kommunismus führten. … Er würde kein Erbarmen mit der Linken zeigen. Es sei an der Zeit, sie zu zermalmen. …
Hitler überließ es schließlich Göring, den eigentlichen Grund des Treffens zu enthüllen: Der Führer habe mit seinen Einlassungen bewiesen, dass das deutsche Unternehmertum großes Interesse an der Bekämpfung der Linken haben müsse, also sollte es auch einen angemessenen finanziellen Beitrag dazu leisten. …
Nach diesem Austausch nationalistischer Gemeinplätze verließen Hitler und Göring den Raum. Hjalmar Schacht kam nun zum Wesentlichen. Er schlug vor, einen Wahlfonds von drei Millionen Mark für die NSDAP und ihre deutschnationalen Koalitionsparteien einzurichten. Tatsächlich erhielt er im Laufe der nächsten drei Wochen Beiträge von 17 Wirtschaftsgruppen. Die größten Einzelspenden kamen von der IG Farben (400 000 RM) und der Deutschen Bank (200 000 RM). Die Wirtschaftsgruppe Bergbau hatte eine großzügige gemeinsame Einlage von 400 000 RM überwiesen. Zu anderen Großspendern zählten die Organisatoren der Berliner Automobilausstellung (100 000 RM) und diverse Unternehmen aus der Elektrobranche wie Telefunken, AEG oder die Akkumulatorenfabrik AFA. In den kommenden Jahren sollte diese ´Adolf-Hitler-Spende der deutschen Wirtschaft´, die dem Reichskanzler zur persönlichen Verfügung stand, zu einer Institution werden. Faktisch aber waren es die Spenden vom Februar und März 1933 gewesen, die einen wirklich entscheidenden Beitrag leisteten. Denn sie waren für die Partei just in dem Moment eine kräftige Finanzspritze, als diese ungemein knapp bei Kasse war und, wie Göring so richtig voraus gesagt hatte, vor der letzten Wahl ihrer Geschichte stand.“ (Adam Tooze: Ökonomie der Zerstörung. Die Geschichte der Wirtschaft im Nationalsozialismus, München 2008, S. 127 ff.)
Diese Spende, die in den folgenden Jahren als ´Adolf-Hitler-Spende der deutschen Wirtschaft´ zu einer Institution wurde, hat im Februar und März 1933 die NSDAP vor dem finanziellen Kollaps bewahrt. (Tooze, S. 129)
4. Was uns diese Fakten sagen
1. In dem für das Schicksal des Reiches und seiner Bevölkerung, und besonders auch für das Schicksal der NSDAP dramatisch entscheidenden Jahr 1932 erhielt diese Partei keine irgendwie relevante finanzielle Unterstützung seitens der Großunternehmen und ihrer Verbände. Selbst als die Nazi-Bewegung vor ihrem finanziellen Ruin stand, rührte sich auf Seiten des Kapitals niemand in nennenswertem Umfang (wenn überhaupt), um die Bewegung zu retten, die doch nach vulgärmarxistischer Auffassung ganz und gar eine des großen Kapitals, dessen politisches Instrument, dessen dienstfertige Auftragnehmerin war.
2. Das Großkapital unternahm nichts, um über Hindenburg oder auf anderem Weg Hitler in das Amt des Reichskanzlers zu hieven. Im Gegenteil: Der Reichsverband der Deutschen Industrie warnte Hindenburg vor einer Kanzlerschaft Hitlers.
3. Der „dreiste Appell“ (Tooze) von Göring und Schacht vom 20. Februar 1933 an die Industriellen, einen Wahlfonds zugunsten der NSDAP anzulegen, und zwar umgehend – die Reichstagswahl am 5. März stand unmittelbar bevor – beweist, dass die angesprochene Wirtschaftselite bis dahin nicht an die NSDAP gezahlt hatte.
4. Schon das Auftreten der beiden Nazi-Führer und Schachts gegenüber den versammelten Industriellen zeigt, dass die neue Regierung und die sie tragende „Bewegung“ nicht im Entferntesten daran dachten, die Macht mit den Großunternehmen zu teilen oder von dieser Seite Weisungen auch nur entgegen zu nehmen, geschweige denn zu befolgen. Sie demonstrierten eindeutig, auch mit ihren politischen Äußerungen: Zermalmen der Linken, Abschaffung der Wahlen nach dem 5. März, dass im Nazi-Staat von Anfang an das „Primat der Politik“ und nicht ein „Primat der Industrie“ bestand – und dass die NS-Führung nicht daran dachte, daran etwas zu ändern. Tooze zeigt im Verlauf seiner quellengestützten Darstellung, wie der NS-Staat konsequent seine Instrumente zur Beherrschung der Unternehmen ausbaute und anwendete. Allerdings gestattete der Staat den Unternehmen auch das Erzielen respektabler Gewinne. Diese durften aber nur zu einem geringen Teil „ausgeschüttet“ werden, den Großteil mussten die Unternehmer investieren – in die Rüstungsindustrie.
5. Warum haben die Großunternehmen die NSDAP vor 1933 nicht finanziert?
(in Arbeit)
Letztlich, weil die Nazi-Bewegung zwar keine proletarische, aber ausgeprägt eine plebejische Bewegung war. Darauf waren die überwiegend jungen Mitglieder und Anhänger der NSDAP in ihrer dominanten Mehrheit geradezu stolz, sie wollte explizit nicht zur herrschenden Klasse gehören, sie hielt selbstbewusste Distanz zu ihr.
Kurz, die NSDAP war den Herren in Industrie und Finanzwelt zu links (Sebastian Haffner in einem Rundfunk-Interview).
6. Belohnte Gefolgschaft?
Zitate aus Aly: Hitlers Volksstaat (Die sehr zahlreichen Belege des Autors können bis auf wenige besonders wichtige Quellenangaben hier nicht wiedergegeben werden.)
6.1. „Steuermilde für die Massen“
„ … das Spannungsverhältnis zwischen Volk und Führung im Nationalsozialismus. Dass das Herrschaftsgebäude Hitlers vom ersten Tag an höchst labil gefügt war, ist bewiesen. Zu fragen ist, wie es stabilisiert wurde – notdürftig zwar, doch ausreichend für zwölf fulminante, zerstörerische Jahre. … Wie konnte ein im Nachhinein so offenkundig betrügerisches, größenwahnsinniges und verbrecherisches Unternehmen wie der Nationalsozialismus ein derart hohes, den Heutigen kaum erklärbares Maß an innenpolitischer Integration erreichen?“, S. 36
Nach der Sozialstatistik für das Jahr 1937 „blieben sämtliche Arbeiter im Deutschen Reich unter der 2400-Mark-Grenze (dem Freibetrag für den Kriegszuschlag von 50 % auf die ESt, B.S.), von den 3,7 Millionen Angestellten immerhin 53 Prozent. Nimmt man die kleinen Beamten hinzu, damals noch bei Bahn und Post zahlreich beschäftigt, dann kann man ohne weiteres sagen, dass die deutschen Arbeiter wie große Teile der Angestellten und Beamten bis zum 8. Mai 1945 nicht einen Pfennig direkter Kriegssteuer bezahlten.
Vergleicht man die KWVO (Kriegswirtschaftsverordnung) mit den Vorschlägen aus der Planungsphase, dann fällt auf, dass der ursprünglich vorgesehene, alle Einkommensbezieher belastende Zuschlag von zunächst 50, dann 25 Prozent auf sämtliche Löhne, Gehälter und Privateinkünfte nicht verwirklicht wurde. Die breitenwirksame Steuer war durch ein Verfahren ersetzt worden, das voll nur die Spitzenverdiener und mäßig nur das obere Viertel der Einkommensbezieher belastete. Das entsprach einer Grundvorstellung, die Hitler schon 1935 geäußert haben soll. ‚Auf Befehl des Führers’ sollten demnach ‚die höheren Einkommen im Kriege beschränkt werden’, und zwar ‚entweder durch eine Zwangsanleihe oder durch eine progressiv gestaffelte Gewinnsteuer’.“ S. 68
… „Insbesondere jedoch verdarb der Verlust der Überstundenzulagen die Laune der deutschen Arbeiterschaft. Deshalb führte der Reichsverteidigungsrat schon am 15. November 1939 Zuschläge für die über zehn Stunden hinaus geleistete Tagesarbeit sowie für die gesamte Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit wieder ein.“ S. 69
… „Im Juni 1940 herrschte unter den Finanzfachleuten die Meinung vor, zurzeit bestehe ‚überhaupt keine Aussicht’ darauf, ‚irgendwelche steuerlichen Dinge beim Generalfeldmarschall (Göring) und dem Führer durchzubringen.’ Im Gegenteil. Gegen jede kriegswirtschaftliche Vernunft, ohne jeden Zwang, sondern aus purem Populismus hob die Führung im August 1940 auch noch das Verbot von Zuschlägen für die neunte und zehnte Arbeitsstunde auf. Nicht genug damit: Auf Vorschlag von Rüstungsminister Fritz Todt wurde vom Dezember 1940 an jegliches Einkommen, das aus den Zuschlägen für Überstunden-, Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit herrührte, von Steuern und Sozialabgaben befreit. Damit stiegen die Löhne deutlich. Pünktlich zum Fest kam der Beschluss, die Weihnachtszuwendungen von der Kriegssteuerauszunehmen.“ S. 70
„… wurden im Jahr 1941 die Renten erhöht. … Den größten Vorteil hatten die Kleinrentner, weil – wie jeder Radikalsozialist das gerne fordert –nicht prozentual, sondern pauschal angehoben wurde. Jeder erhielt sechs Reichsmark pro Monat mehr, die Renten der Witwen erhöhten sich um fünf, die der Waisen um vier Reichsmark. Durchschnittlich stieg die Rente um 15 Prozent.
… Die Rentenreform von 1941 tilgte einen weiteren sozialpolitischen ‚Mangel, der von jeher der Versorgung der Sozialrentner anhaftete’: Die obligatorische Krankenversicherung wurde eingeführt. Der monatliche Pflichtbeitrag betrug eine Reichsmark, Witwen und Waisen blieben beitragsfrei. Bis dahin hatten sich die Rentner entweder an die Fürsorge wenden oder sich privat versichern müssen, was sie nur ausnahmsweise taten. Die Gesetze traten im August und im November 1941 in Kraft.“ S. 71 f.
… „Intern vermerkte Hitlers Leiter der Parteikanzlei, Martin Bormann, am 3. März 1943: ‚Der Führer betonte: 1. An sich wäre es das Beste, wenn während des Kriegs von Steuererhöhungen abgesehen würde! Abschöpfung aller Kriegsgewinne nach dem Krieg mit einem Schlage wäre das Beste! 2. Will man während des Kriegs besteuern, dann nur Erhöhung der Einkommenssteuer! Dabei erst Besteuerung ab 6000 Mk. … Zwei Wochen nach Hitlers Diktum, am 18. März, bezog Fritz Nonnenbruch im Leitartikel des Völkischen Beobachters gegen den vom Finanzminister beabsichtigten Steuerzuschlag Stellung, weil sich ‚gerade vom nationalsozialistischen Standpunkt aus’ Bedenken ‚gegen die zusätzliche Besteuerung der kleineren Einkommen bis zur Höhe von 5000 bis 6000 RM erhöben.“ S. 73 f.
„Wenig später, nach dem Seitenwechsel Italiens, forderte Goebbels zur Abwehr eines ähnlichen Umschwungs in Deutschland: ‚Der Nationalsozialismus muss eine Erneuerung durchmachen. Noch sozialistischer als früher haben wir uns an das Volk anzuschließen. Das Volk muss auch immer wissen, dass wir seine gerechten und großzügigen Sachwalter sind.’“ (Tagebücher, Sept. 1943). S. 75
„Als die Rote Armee längst die Oder überschritten hatte und amerikanische Truppen auf Würzburg vorrückten, gab Goebbels Ende März 1945 die gesammelte Unfähigkeit der NS-Führung, dem deutschen Volk etwas zuzumuten, zu Protokoll: ‚Krosigk hat nunmehr seinen Entwurf zur Steuerreform ausgearbeitet. Dieser Entwurf ist mir zu unsozial. Er basiert in der Hauptsache auf Verbrauchsteuern; dagegen sind die Einkommensteuern nicht in Betracht gezogen worden. Verbrauchsteuern aber treffen fast nur die breiten Massen und sind deswegen bei ihnen außerordentlich unbeliebt. Sie stellen ja auch eine starke Ungerechtigkeit dar, die wir uns im gegenwärtigen Zeitpunkt nicht leisten können’“ (Tagebücher, März 1945). S. 76 f.
Johann Ludwig „Lutz“ Graf Schwerin von Krosigk: Reichsminister der Finanzen 1932–1945
6.2. „Steuerhärte gegen die Bourgeoisie“
Nach der KWVO hatten die deutschen Unternehmen ihre kriegsbedingten Mehrgewinne bereits ab September 1939 an den Fiskus abzuführen. Diese Vorschrift konnte zunächst von den Unternehmen weitgehend umgangen werden. Als An fang 1941 das Reichsfinanzministerium sowohl die Lücken schloss als auch die Bemessungsgrundlage für Kriegsgewinne vergrößerte, stieg die Kreditnachfrage der Unternehmen sprunghaft an. „Auch die Volkswirtschaftliche Abteilung der Deutschen Bank führte si auf die ‚immer weiter ausgebaute Beschlagnahmung der Kriegsgewinne zurück.’ Zudem zahlte die Wehrmacht für Rüstungskäufe weniger an und beglich ihre Rechnungen zögerlich. Im Jahr 1941/42 erreichte die Gewinnabführung 750 Millionen, 1942/43mehr als 1,3 Milliarden Reichsmark, im folgenden Haushaltsjahr ging sie geringfügig zurück. Weil zumindest gelegentlich eine Überbesteuerung eingetreten war, musste die Gesamtlast für das einzelne Unternehmen von 1943 an begrenzt werden: Sie durfte 80 Prozent der gewerblichen Einkünfte nicht übersteigen.
Für die Unternehmen gravierender war der Mitte 1941 erstmalig erhobene Kriegszuschlag auf die Körperschaftsteuer. Er betraf alle Körperschaften mit mehr als 50 000 Reichsmark Jahresertrag und belief sich – nachdem diese Steuer vor dem Krieg bereits auf 40 Prozent erhöht worden war – nun auf 50 Prozent des Unternehmensgewinns. Vom 1. Januar 1942 an wurde die Körperschaftsteuer für Kapitalgesellschaften mit einem Jahresertrag von mehr als 500 000 Reichsmark auf 55 Prozent festgesetzt. Das führte zur sofortigen, zum Teil auch rückwirkend geltenden ‚scharfen Beschneidung der unternehmerischen Einkommen.’ Tatsächlich nahm der Staat mit Hilfe dieser Unternehmensteuer in den drei Haushaltsjahren 1941/42 bis 1943/44 deutlich mehr als vier Milliarden zusätzlich ein.
… Zwischen September 1939 und März 1942 verzeichnete die Reichskasse zwölf Milliarden Reichsmark an Einnahmen aus Kriegssteuern aller Art. Betrachtet man die Verteilung zwischen den sozialen Schichten, dann belastete nur die Zusatzsteuer auf Tabak, Branntwein und Bier, die vom September 1939 bis Anfang 1942 insgesamt 2,5 Milliarden Reichsmark erbrachte, die große Mehrheit der Einkommen. Die vorübergehende Streichung der Zuschläge erbrachte 0,25 Milliarden Reichsmark, während die restlichen neun Milliarden Reichsmark – also 75 Prozent der innerdeutschen Kriegslasten – auf Unternehmen und Bezieher hoher ‚Einkommen entfielen. Dazu äußerte Görings finanzpolitischer Berater Otto Donner: ‚Die steile Progression der Einkommensteuer sorgt in Verbindung mit der Körperschaftsteuer für einen verhältnismäßig großen Beitrag der Großeinkommen zum Staatsbedarf.’ Zugleich blieb jede Art von Miet- und sonstigen Preissteigerungen in Deutschland strikt verboten.“ S. 77 ff.
6.3. Sondersteuer für Hausbesitzer
Diese nach längerer Gesetzesdebatte eingeführte zusätzliche Belastung der Hauseigentümer erbrachte im Haushaltsjahr 1942/43 gut 18 Prozent der inländischen Einnahmen aus Kriegssteuern.
„Zu keinem Zeitpunkt der NS-Herrschaft fand eine Gesetzesdebatte statt, die zu einer nur annähernd gleichen Belastung der Arbeiterschaft geführt hätte. Vielmehr dokumentiert sich in der Diskussion um die Hauszinssteuer anschaulich das Prinzip, den materiell besser Gestellten auch einen deutlich höheren Anteil der Kriegslasten aufzubürden. Sie folgte dem programmatischen Vorschlag Görings, der bereits im November 1938 angeregt hatte, die Rüstung mit Hilfe ‚einer einmaligen Abgabe vom Vermögen wohlhabender Deutscher zu bezahlen.’“ S. 79 ff.
6.4. Abschöpfung der Profite
Umgang mit Börsengewinnen: „Zum 1. Januar 1941 wurden Erträge aus Aktiengeschäften wieder der Spekulationssteuer unterworfen, wenig später wurde die jährliche Dividende (und jede andere Art von Gewinnausschüttung) auf sechs Prozent begrenzt, vor allem wegen der ‚propagandistischen Bedeutung, die doch die Maßnahme im Wesentlichen haben soll’ (Reichsfinanzminister von Krosigk).
… Am 4. Dezember 1941 wurde der Reichswirtschaftsminister ermächtigt,, eine allgemeine Meldepflicht für den Besitz von Wertpapieren einzuführen und Vorschriften über den Verkauf und die Anlage der dabei erzielten Erlöse zu erlassen. Auf gut Deutsch ging es darum, ähnlich wie zuvor die Juden, nun die arischen Wertpapierbesitzer zu zwingen, Aktien gegebenenfalls in solchen Staatsanleihen anzulegen, die bis auf weiteres nicht gehandelt werden durften.“ S. 82
„Zu melden waren alle seit dem 1. September 1939 gekauften Aktien, Kuxen und Kolonialanteile, und zwar bis zum 30. April an die örtlich zuständigen Reichsbankfilialen. … Die Meldepflicht richtete sich gegen das ‚große Geld’, sie entfiel für Bestände unter 100 000 Reichsmark und bezweckte die ‚Sterilisierung der großen Käufer’ (Rheinisch-Westfälische Zeitung, 21.9.1942). … Der Anmeldepflicht folgte die zweite Durchführungsverordnung am 9. Juni 1942. Sie verbot den weiteren Handel mit den gemeldeten Papieren und unterwarf sie der Verkaufspflicht an eine vom Reichswirtschaftsminister zu bestimmende Stelle. … Das Verfahren sollte Großaktionäre und solche Aktienspekulanten einschüchtern, die aus gesunder Vorsicht danach trachteten, möglichst wenig deutsche Kriegsanleihen in ihr Portefeuille zu nehmen. Darin sah Reichswirtschaftsminister Funk das unerwünschte ‚Aufkommen einer Sachwertpsychose’, die er für ‚psychologisch gefährlich’ hielt. Sein Ziel bestand darin, ‚die Aktienkurse zu drosseln, das Anlage suchende Geld von der Aktienbörse abzudrängen und es den Reichspapieren zuzuführen’, sprich: der Kriegsfinanzierung.“ S. 83 f.
… „Anfang 1943 erging ein allgemeiner Kursstopp für Aktien, nachdem die Börsen auf ‚die wiederholt ausgesprochenen Warnungen’ nur mit vorübergehenden Kursdellen reagiert hatten. Die Börse blieb geöffnet, doch hatte sie ihre Funktion eingebüßt. Jetzt kauften die Börsianer ‚mangels sonstigen Angebots in der Hauptsache Reichswerte’“. S. 85
„1943 konnten – nach industrienahen Schätzungen – etwa 80 bis 90 Prozent der Unternehmensgewinne zugunsten der Staatskasse abgeschöpft werden.. Die Angaben sind eindeutig übertrieben, doch beschreiben sie zutreffend die steuerpolitische Tendenz des NS-Staates: Nachdem mit Hilfe der Körperschaftsteuer, der Gewinnabführung und der sich verschlechternden staatlichen Zahlungsmoral die Gewinne schon deutlich reduziert worden waren, erhob der Fiskus auf die ausgeschütteten Gewinne noch eine Steuer von 65 Prozent. So machte zum Beispiel eine Firma (Wicküler-Küpper-Brauerei AG, Wuppertal an RFM, 14.5.1943), die ihren seit 1939 erworbenen Aktienbesitz im Geschäftsjahr 1941/42 nach dem schon angeführten Gesetz an die Reichsbank veräußern und in nicht handelbare Kriegsanleihen umtauschen musste, dabei einen nominellen Gewinn von 120 000 Reichsmark. Darauf waren fällig: 55 % Körperschaftsteuer, zuzüglich 30 % Gewinnabführung + ca. 13 % Gewerbesteuer’, insgesamt also 98 Prozent des Gewinns. Für das Jahr 1945 sah die Regierung eine drastisch erhöhte Vermögensteuer vor, die rückwirkend auch für 1943 und 1944 erhoben werden sollte.“ S. 85 f.
Nein, die NSDAP war keine Partei des Großkapitals. CDU-CSU, SPD, FDP von heute sind es in einem unvergleichlich größerem Maße.
6.5. Instrumentalisierung – gegenseitig?
Hitler brauchte die hoch entwickelten Produktionsmittel, das technische Wissen und Können und die organisatorischen Fähigkeiten des privaten Unternehmertums. Er brauchte auch die erprobte Fähigkeit des Kapitals, „seine“ Arbeiter und Angestellte zu größtmöglicher Leistung zu zwingen. Er brauchte „die Wirtschaft“ für sein Streben nach Autarkie und für die Durchführung seiner gigantischen Aufrüstung, und später für seinen Eroberungs- und Vernichtungskrieg. Den Unternehmern gefiel die schnell vollzogene „Zermalmung der Linken“. Hier handelte der NS-Staat aber nicht, um dem Kapital eine Gefälligkeit zu erweisen, er eliminierte seinen einzigen wirklichen und gefährlichen politischen Gegner im Kampf um die Massen, um die Dominanz auf den Straßen und Plätzen in seinem ureigenem Interesse. Wenn von Instrumentalisierung gesprochen werden kann, dann ausschließlich in dem Sinne, dass die NS-Führung Industrie und Banken für ihre Zwecke instrumentalisiert hat und nicht umgekehrt.
Schon kurz nach der Machtübergabe an Hitler erwiesen sich die Konzernleitungen als überaus eifrige „willige Vollstrecker“. Trotzdem wurde während der Herrschaft der Nazis die gesellschaftliche Stellung der Großunternehmer finanziell und mehr noch im dispositiven Bereich, geschwächt. Die vom Staat erzwungenen Investitionen des Großteils der Profite in die Rüstungsindustrie waren und blieben jedoch Investitionen in das eigene Vermögen der Unternehmen und der Unternehmer.
Im weiteren Verlauf der NS-Herrschaft beteiligten sich die Großunternehmer an so gut wie allen Verbrechen dieses Systems. Hierzu mussten sie nicht mühsam überredet werden. Als „willige Vollstrecker“ funktionierten sie reibungslos. Diese ´Elite´ des deutschen Bürgertums hatte der Barbarei, dem Verrat an sämtlichen bürgerlichen Idealen nicht das Geringste entgegen zu setzen. Diesem zutreffenden Gesamturteil über die Großunternehmer widerspricht nicht, dass Einzeluntersuchungen gewisse Unterschiede im Grad der Mittäterschaft sichtbar gemacht haben.
Auch für die deutsche Großbourgeoisie, und bei Berücksichtigung ihres weit über dem Durchschnitt liegendem Bildungsniveaus sogar in besonderem Maße, gilt, „dass sich die kulturell vermittelte Abneigung jeder Form von Gewalt gegenüber als unzureichender Schutzmechanismus gegen staatliche Gewalt erwies; zivilisiertes Verhalten bewies eine erstaunliche Anpassungsfähigkeit und Geschmeidigkeit gegenüber den Bedingungen des Massenmords. Der langwierige und oft schmerzvolle Zivilisationsprozess hatte keine einzige hundertprozentig sichere Barriere gegen den Genozid errichtet. Die Mechanismen des Massenmords bauten auf dem zivilisierten Verhaltenskodex auf. … In der Konfrontation mit einem skrupellosen Regime, das die Schaltstellen der mächtigen modernen Staatsmaschinerie besetzt hatte und folglich auch deren Monopol an Gewalt und Zwangsmittel uneingeschränkt befehligte, erwiesen sich die im Zivilisationsprozess entwickelten Schutzmechanismen gegen den Rückfall in die Barbarei als unzulänglich. Die Zivilisation war machtlos, als ihr das Furcht einflößende Macht- und Gewaltpotential, das sie selbst hervorgebracht hatte, entrissen wurde.“ Zygmunt Bauman: Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust, Hamburg 2002, S. 125 f., Hvh. im Original.
7. Die Perspektive: „Volksstaat“ ohne Konzernmacht
7.1. Die Macht über die Investitionen. Ausbau des NS-staatlichen Sektors in der Schwerindustrie
Was wäre aus den Großunternehmen, aus dem privaten Kapital insgesamt, geworden, wenn der NS-Staat obsiegt hätte? Kurz, das private Kapital und die Großunternehmer als gesellschaftliche Schicht hätten nicht überlebt. Die Version der NS-Ideologie, die sich nach unzähligen Richtungskämpfen mit dem 30. Juni 1934 endgültig durchgesetzt hatte, zielte auf eine sehr einfach gegliederte Gesellschaft ab: Oben die Führung mit dem Führer an der Spitze, darunter die „Volksgemeinschaft“, beide Ebenen zusammengefasst im „Volksstaat“. Während Gregor Straßer ein sozialpartnerschaftlicher Ständestaat unter straffer politischer, auch wirtschaftspolitischer Führung durch die NSDAP vorschwebte, lehnte die „gesäuberte“ NS-Führung, allen voran der notorische Verächter des Profitdenkens Hitler, hierarchische Strukturen unterhalb der Führungsebene ab. Diese Nazis meinten wirklich „Volksgemeinschaft“, die historisch entstandene Teilung in soziale Klassen sollte für immer überwunden werden. Eine zweite Spitze im Land in Gestalt des großen Kapitals duldeten Hitler und seine Gefolgschaft nicht. Bereits vor dem Krieg entstanden die staatliche Braunkohle Benzin AG (BRABAG), die „Reichswerke Hermann Göring“ und das Volkswagenwerk. Die „Reichswerke Hermann Göring“ wurden mit staatlicher Gewalt gegen die Stahlindustrie durchgesetzt, deren Eisenerzlagerstätten enteignet wurden. „Bis Anfang der vierziger Jahre metastasierten sie zum wahrscheinlich größten Industriekonglomerat der Welt“ (Tooze, S. 282).
Nach Hitlers Einmarsch in Österreich ging die ÖAMG, Eigentümerin des Steierischen Erzbergs mit seinen immensen Vorkommen an hochwertigem Eisenerz, nicht an die privaten Vereinigten Stahlwerke sondern an Görings „Reichswerke“, ebenso wie 1939 Thyssens großer Anteil an den Vereinigten Stahlwerken nach dessen Flucht in die Schweiz (Tooze, S. 290 f. u. 374). Später entstanden die zahlreichen Wirtschaftsunternehmen der SS. Das waren Vorboten eines „neuen ökonomischen Organisationsprinzips“ (Tooze, S. 211), dessen vollständige Realisierung nach einem Sieg des NS-Staates den alten Wirtschaftseliten wenig Freude gemacht hätte.
Mich bestätigt auch „Das Ende der Wirtschaftskrise in Deutschland“ mit dem Unterkapitel „Staatskonjunktur ohne private Investitionen“ aus dem ausgezeichnet empirisch fundierten Buch von Gerhard Kroll: Von der Weltwirtschaftskrise zur Staatskonjunktur, 750 S., (West-)Berlin 1958. Daraus ein Zitat:
„Während Mario Knüsli (?) nachträglich diese Investitionsbereitschaft der Unternehmer bestreitet und die Arbeitsbeschaffung darum als misslungen bezeichnet, sahen sich die nationalsozialistischen Wirtschaftsexperten im Jahre 1937 gezwungen, eben gerade diese Investitionsneigung der Unternehmer zuzugeben und Gründe dafür anzugeben, warum diesem Verlangen nach freien Investitionen nicht entsprochen werden konnte“ (wegen Rüstung und anderer öffentliche Güter).
„Obwohl an der kapitalistischen Eigentumsgrundlage der unternehmerischen Wirtschaft nicht gerüttelt und auch das Prinzip der marktwirtschaftlichen Konkurrenz nicht annulliert wurde, engten diese staatlichen Investitionstechniken die Freiheit der unternehmerischen Investition und Produktion stark ein und reduzierten und fragmentierten trotz der Beteiligung von Vertretern großer Konzerne an der staatlichen Produktionsplanung (und erheblicher Profite) den politischen Einfluss der Großindustrie, verglichen mit der Weimarer Zeit.“
Wolfgang Benz: Geschichte des Dritten Reiches, München 2000, S. 103
Wie steht es um die Macht, um den politischen Einfluss von Unternehmen, die nicht einmal über ihre Investitionen entscheiden dürfen?
Auch dieser Tagebuch-Eintrag von Goebbels vom 14.3.1945 passt nicht so ganz zu einem Lobbyisten des Großkapitals: „Der Duce hat durch die Sozialisierung der Schlüsselindustrie in Norditalien sich wieder ein gewisses Echo in der italienischen Arbeiterschaft verschafft. Jedenfalls ist es nicht so, dass diese Sozialisierung eine improvisatorische Maßnahme darstellt. Im Gegenteil, nach den neu einlaufenden Berichten ist sie wohldurchdacht und vor allem psychologisch von einer erheblichen Wirkung,“ Goebbels, a.a.O., S. 230
7.2. „Endlösung“ und „Generalplan Ost“
Die beiden Projekte des NS-Regimes mit der höchsten Priorität im Zielbündel der Nazi-Spitze und mit den ungeheuerlichsten tatsächlichen und geplanten Auswirkungen, die Shoa und der Generalplan Ost, entstanden allein in einem Kreis höchster Naziführer und wurden allein von diesem Kreis durchgeplant und in Bewegung gesetzt. Es waren Hitler, Göring, Himmler, Heydrich, Darré, Backe und Konrad Meyer. Niemand aus der Privatwirtschaft hatte mit diesen Planungen und ihrer Ausformung auch nur das Geringste zu tun. Kein Nazi hatte irgend einen Kapitalisten vorher gefragt oder gar um Erlaubnis gebeten. Dass viele Unternehmer sich später mit großem Eifer und mit höchst kreativer Phantasie an der Realisierung dieser unfassbar unmenschlichen Projekte beteiligten, auch den Nazis stets mit Rat und Tat zur Seite standen und davon kräftig profitierten, steht auf einem anderen Blatt. Vor allem Karl Krauch von den IG Farben hätte in Nürnberg das Schicksal der Schwerstverbrecher teilen müssen.
Wer im Nationalsozialismus „die offene, terroristische Diktatur der reaktionärsten, chauvinistischsten, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals“ (Dimitroff und die gesamte diesbezügliche Geschichtsschreibung der sozialistischen Länder) sieht, hat das Wesen der NS-Bewegung, hat vor allem Hitler nicht verstanden.
7.3. Hitler befiehlt „verbrannte Erde“
Goebbels-Tagebücher 1945. Die letzten Aufzeichnungen. Einführung Rolf Hochhuth (die ist sehr lesenswert). – Bei allen auf etwa 600 Seiten dargestellten Maßnahmen und – illusionären – Vorhaben spielte die Großwirtschaft, spielten die Meinungen und Interessen der Industrie nicht die geringste Rolle. Weder Hitler noch Goebbels noch die übrigen höchsten Nazis erwähnten in der hier beschriebenen Schlussphase des Nazi-Reiches diese angeblich herrschende Klasse auch nur ein einziges Mal. Doch: Hitler befahl auch im Westen (Aachen, Rhein-Ruhr usw.) die Zerstörung aller Infrastruktur- und Industrieanlagen, außerdem die Deportierung der deutschen Bevölkerung, bevor sie in die Hände der Alliierten fällt. Goebbels unterstützte diesen „Nerobefehl“ Hitlers. Die Industrie war dagegen – und fand einen Verbündeten in Albert Speer. Der verhinderte äußerst trickreich die „verbrannte Erde“, was Hitler schließlich durchschaute. Speer tauchte nicht in Hitlers Dönitz-Goebbels-Ministerliste auf; Hitler ersetzte ihn durch Speers Mitarbeiter Karl-Otto Saur. Goebbels, S. 447
Hitlers Plan der „verbrannten Erde“ war gescheitert. Es ist das einzige Mal, dass sich „die Industrie“ gegen die oberste Naziführung faktisch durchsetzte. Aber auch hierbei haben die Herren niemals offen widersprochen oder gar protestiert.
8. Material zu den gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Auffassungen Hitlers und der Wirtschaftspolitischen Abteilung der NSDAP-Führung
Quelle: H.A. Turner (Hg.): Hitler aus nächster Nähe. Aufzeichnungen eines Vertrauten (Otto Wagener) 1929-1932, Ullstein 1978
Vorbemerkung: In seiner Einleitung erörtert Turner die Glaubwürdigkeit von Wageners Aufzeichnungen. Es handele sich letztlich um die Quellenkategorie der Überlieferung. Wagener erstellte seine Niederschrift 1946 in britischer Kriegsgefangenschaft. Er hatte in seiner Zeit als Vertrauter und Berater Hitlers Tagebuch geführt, das ihm aber in der Gefangenschaft nicht zur Verfügung stand. Turner hat Wageners Text sorgfältig geprüft, auch im Vergleich mit anderen Quellen. Er kommt zu dem Ergebnis, dass der Autor über ein überdurchschnittliches Gedächtnis verfügte und dass Hitlers Ausführungen ihn tief beeindruckt hatten, weswegen er diese und die jeweiligen Umstände, in denen Hitler sich äußerte, gut in Erinnerung hatte. Gerade auch gelegentliche unbedeutende Irrtümer in der Datierung von politischen Ereignissen zeigen nach Turner Wageners Bemühen um exakte Wiedergabe seiner Gespräche mit Hitler sowie der Diskussionsrunden mit weiteren Teilnehmern. Turner weist aber auch darauf hin, dass Wagener den von ihm bewunderten Hitler die damals weltweit bekannt gewordenen ungeheuren Verbrechen des Nationalsozialismus nicht anlasten wollte. Für Wagener waren die Haupttäter Göring, Goebbels und Himmler.
Turner fasst das Ergebnis seiner Recherchen wie folgt zusammen:
„Ebenso wenig wie bei Rauschning darf man die Äußerungen, die Wagener Hitler und anderen in direkter Rede zuschreibt, als wörtliche Zitate ansehen. Andererseits handelt es sich bei ihm … nachweislich um die Berichte eines Augen- und Ohrenzeugen. Auch wenn man annehmen muss, dass die wiedergegebenen Worte unmöglich mit denen, die Jahre vorher tatsächlich gesprochen wurden, identisch sein können, bieten seine Berichte über Gespräche … eine Möglichkeit, aus erster Hand zu erfahren, über welche Themen in der innersten Führungsschicht der NSDAP damals gesprochen wurde und welche Standpunkte von den verschiedenen NS-Größen – vor allem von Hitler – vertreten wurden. Diese Aufschlüsse, die selbstverständlich einer sorgfältigen Überprüfung aufgrund anderer Informationsquellen unterzogen werden müssen, verleihen den Aufzeichnungen Wageners einen beachtlichen Wert als historische Quelle“, S. VII.
Aus den fast 500 Druckseiten umfassenden Aufzeichnungen Wageners kann für den hier relevanten Komplex folgendes mit Sicherheit geschlossen werden:
– Hitler lehnte das liberalistische Wirtschaftssystem des Kapitalismus aus tiefster Überzeugung und aus tiefsten Gefühlen ab. Er verachtete das Profitsystem und die nach diesem handelnden Wirtschaftseliten. Hitler „war … kein Mann, der der Wirtschaft irgend ein Primat, gleichgültig auf welchem Gebiet es war, zubilligte“, Wagener S. 257. Wagener gegenüber begründet er, warum er trotzdem die Unterstützung der liberalistisch-konservativen Parteien, in Hitlers Begrifflichkeit „die Reaktion“, und von deren verachteten Führern anstrebt. Mit ihrer Unterstützung im Reichstag und bei Hindenburg gedachte er, an die Macht zu gelangen. So ist es bekanntlich geschehen. Die konservativen Parteien wurden wie die liberalen und christlichen schon 1933 gezwungen, sich selbst aufzulösen.
– Ebenso unerbittlich lehnte er den Kommunismus ab, vor allem in Gestalt des „jüdischen Bolschewismus“. In dessen von ihm für möglich gehaltenen Sieg sah er die Vernichtung der europäischen Kultur. Es sei die erste Aufgabe der NS-Bewegung, diesen Sieg zu verhindern.
– Auch ein temporäres taktisches Bündnis mit der Sowjetunion lehnte er gegen Wageners insistierenden Versuche, Hitler für eine insgesamt den Ländern Osteuropas gegenüber kooperative Politik zu gewinnen, kategorisch ab.
– Hitler war besessen von der Idee des „Raumgewinns“ im Osten. Vor allem seien die fruchtbaren Böden der Ukraine und die Rohstoffe der Kaukasus-Region für Deutschland zu erobern. Diese Expansion glaubte er durch die dauerhafte Zusammenarbeit mit England sichern zu können. Allein ein durch diese Landnahmen autarkes Deutschland als Kern eines vereinten Europa könne der imperialistischen Bedrohung durch die USA widerstehen.
– Hitlers Vorstellungen bezüglich der anzustrebenden Gesellschaftsordnung bleiben auch hier verschwommen. Einerseits wollte er die Grundlagen für eine Gesellschaft schaffen, die jedem Kind die Möglichkeit gibt, die eigenen Fähigkeiten zu entfalten und durch ihre Anwendung im Beruf ohne Not leben zu können. Einkommen aus Besitz lehnte er ab. Andererseits forderte er einen Wettbewerb, in dem sich die Stärksten und Tüchtigsten durchsetzen können – allerdings durch Leistung, und nicht auf Kosten der weniger Befähigten. Gemeinschaftssinn sei zu wecken, vor allem bei den Kindern und Jugendlichen, denn nur dadurch wird er zur allgemein gültigen, selbstverständlichen Haltung der Gesellschaft. Es realisiert sich Hitlers großes gesellschaftliches Ziel, oder sein großer Traum:
„Volksgemeinschaft, Volksgemeinschaft, Volksgemeinschaft muss unser Kampfruf sein. Alles, was die Schichten einigt und verbindet, muss hervorgeholt, gepflegt und gefördert werden, und alles, was sie trennt, was die alten Voreingenommenheiten wieder wach werden lässt, muss vermieden, bekämpft, beseitigt werden. … Wir müssen wie Christus predigen: ‚Ihr seid allesamt Brüder! Liebet Euch untereinander!’“ S. 349
Hierzu ausführlich Friedrich Tomberg: Das Christentum in Hitlers Weltanschauung, Paderborn 2012
– Wirtschaftspolitische Grundvorstellungen: Weltmarktabhängigkeit der deutschen Wirtschaft beenden: Exporte nur für notwendige Importe, Binnenmarkt stärken. Wenn der gesättigt ist, Arbeitszeit verkürzen, in Kultur und Bildung investieren. Großbetriebe werden Genossenschaften, Privatkapital der AGs etc. wird umgewandelt in Eigentum der Genossen: „Erwerbung von Besitzanspruch durch Arbeit“. Handwerk bleibt im Familienbesitz. Alle Betriebe müssen sich am Markt bewähren, keine zentrale Lenkung/staatl. Planwirtschaft. Keine Einigung über Landwirtschaft.
Nach der Erringung der Regierungsgewalt über den Reichstag (keinesfalls auf anderem Weg) soll zunächst die Arbeitslosigkeit durch staatliche Geldschöpfung und große staatliche Investitionen in die Infrastruktur beseitigt werden.
Joachim Fest referiert Protokolle der Lagebesprechungen im Bunker der Reichskanzlei, April 1945:
„Zugute halten könne er sich lediglich, die Juden, wie er es nennt, ‚mit offenem Visier’ bekämpft und ‚den deutschen Lebensraum vom jüdischen Gift gesäubert zu haben’. In allem übrigen hingegen sei er zu unentschlossen gewesen: als er die deutschen Konservativen nicht rücksichtslos ausgeschaltet, sondern mit diesen ‚Kavaliers-Politikern’ eine revolutionäre Politik zu führen versucht habe; auch als er es in Spanien und Frankreich versäumt habe, die Arbeiter aus den Händen eines ‚Bürgertums der Fossilien’ zu befreien. …
Dieses Versagen hat er sich, wie die Protokolle auch der letzten Lagebesprechungen ausweisen, bis ans Ende zum Vorwurf gemacht. Im Verlauf der Machtergreifung, erklärte er während der Konferenz vom 27. April, sei er während der Monate vor dem Tod Hindenburgs im August 1934 beständig zu Kompromissen gezwungen gewesen. Wie viel radikaler hätte er vorgehen können, jammerte er, ohne den ‚Klüngel um dieses Geschmeiß’ der Vergangenheit, ‚Tausende’ hätte man ‚beseitigen’ müssen.“
Joachim Fest: Der Untergang. Hitler und das Ende des Dritten Reiches. Eine historische Skizze, Reinbek 2003, S. 99 f.
9. Anhang 1: Volksgemeinschaft im NS-Film
Am 11. Februar 2017 in der Ausstellung „Berlin 1937“ im Märkischen Museum gefunden:
Plakatwerbung für den Film ‚Der Herrscher’ (Regie: Veit Harlan) am Großkino Ufa-Palast am Zoo in Berlin-Charlottenburg. März/April 1937 mit dem Text:
„Am 17. März 1937 wurde in Berlin der Spielfilm ‚Der Herrscher’ uraufgeführt. Der von Emil Jannings dargestellte Besitzer eines Stahlwerks verkörpert darin das diktatorische ‚Führerprinzip’. Am Ende des Films vermacht die Hauptfigur ihr Unternehmen ‚dem Staat, also der Volksgemeinschaft’. Die Botschaft entsprach der NS-Wirtschaftsideologie.“
Wikipedia-Eintrag: Der Herrscher
Im Film, der teilweise in der Gutehoffnungshütte in Oberhausen entstand, wurde aus dem liberalen Verleger und milden Kunstsammler Clausen aus Hauptmanns Drama ein robuster und das Führerprinzip verkörpernder Herrscher eines Stahlwerks.
So donnert Clausen in einer Szene vor dem Verwaltungsrat, die völkische Wirtschaftsideologie der Nationalsozialisten bedienend:
„Wir sind dazu da, für Millionen und aber Millionen Arbeit und Brot zu schaffen. Wir sind dazu da, für die Volksgemeinschaft zu arbeiten. Der Volksgemeinschaft zu dienen, das muss das Ziel eines jeden Wirtschaftsführers sein, der sich seiner Verantwortung bewusst ist. Dieser mein Wille ist das oberste Gesetz für mein Werk. Dem hat sich alles andere zu fügen, ohne Widerspruch, auch wenn ich damit den ganzen Betrieb in den Abgrund steuere. Wer sich diesem obersten Gesetz nicht unterordnet, für den ist kein Platz mehr in den Clausen-Werken.“
Anders als in der Vorlage, in der Clausen an dem Konflikt zwischen seiner Liebe zu einer sehr jungen Frau einerseits und der Unversöhnlichkeit seiner Kinder andererseits scheitert, sagt sich der Herrscher-Clausen von seiner Familie los, enterbt diese und vermacht die Clausen-Werke
„dem Staat, also der Volksgemeinschaft. Ich bin gewiss, dass aus den Reihen meiner Arbeiter und Angestellten, die mir geholfen haben, das Werk aufzubauen, der Mann erstehen wird, der berufen ist, meine Arbeit fortzusetzen. Mag er vom Hochofen kommen oder vom Zeichentisch, aus dem Laboratorium oder vom Schraubstock, ich will ihn das Wenige lehren, das ein Scheidender den Kommenden zu lehren vermag. Wer zum Führer geboren ist, braucht keine Lehrer für sein eigenes Genie.“
Die Filmprüfstelle des nationalsozialistischen Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda gab dem Film das Prädikat ‚Staatspolitisch und künstlerisch besonders wertvoll’. Darüber hinaus erhielt Der Herrscher 1937 den Nationalen Filmpreis.
https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Herrscher
10. Anhang 2: Zur Fehlleistung, den Nationalsozialismus unter „Faschismus“ zu subsumieren
„Faschismus“ und „Nationalsozialismus“ sind unterschiedliche historische Phänomene (noch auszuführen)
Faschismus (Italien, Österreich 1934-1938, Spanien – erste Phase der Franco-Diktatur, Portugal, Griechenland): Bündnis mit den bisher herrschenden Klassen, also ständisch-feudalaristokratisch; autoritär-korporatives Wirtschaftsmodell (Ständestaat); kirchlich, klerikal-konservative Moral; selektiv und instrumentalisierend traditionsbewusst; nur latent rassistisch, oft antijudaisch; rückwärts gewandt. FEUDALISMUS-Nähe
Nationalsozialismus (nur Deutschland, ab 1938 mit Österreich): Plebejische (nicht proletarische) Bewegung, Führerprinzip, ansonsten egalitär; Zweckbündnis mit Industrie- und Finanzkapital bei absoluter Dominanz des NS-Staates, schroffe Distanz zum Adel; antikirchlich, überwiegend atheistisch; im Prinzip mit allen Traditionen, auch den moralischen, brechend; fanatisch antisemitisch, bis zur Schädigung eigener Interessen; modernisierend (Technik-gläubig und ökonomisch-technisch rational und somit effizient). INDUSTRIEGESELLSCHAFT
Gemeinsamkeiten: Getragen von einer hierarchisch strukturierten und jeder Zeit mobilisierbaren Massenbewegung, totale Herrschaft, Ersetzen sämtlicher bürgerlichen Freiheiten und Rechte, insbesondere die Gewaltenteilung, Rechtssicherheit, Habeas Corpus, Unversehrbarkeit, Pressefreiheit durch „Staatsraison“ und Willkür; militanter Antikommunismus; Zerschlagung aller Organisationen der Arbeiterbewegung; permanente Selbstinszenierung in Massenaufmärschen und pathetischen Ritualen; territorialer Expansionismus. In beiden Bewegungen spielten Frauen überhaupt keine Rolle – nur als Jubelmasse.
Sebastian Haffner schreibt in seinen „Anmerkungen zu Hitler“, München 1978:
„Was schließlich die fortschreitende Abschaffung von Standesprivilegien und Niederlegung von Klassenschranken betraf, so waren die Nationalsozialisten sogar ganz offiziell dafür (im Gegensatz zu den italienischen Faschisten, die ja die Wiederherstellung eines ‚korporativen Staates’, also eines Ständestaates, auf ihre Fahnen geschrieben hatten – einer von mehreren Gründen, Hitlers Nationalsozialismus und Mussolinis Faschismus nicht in einen Topf zu werfen). Nur das Vokabular änderten sie; was vorher ‚klassenlose Gesellschaft’ geheißen hatte, hieß bei ihnen ‚Volksgemeinschaft’. Praktisch war es dasselbe. Unleugbar gab es unter Hitler, noch mehr sogar als vorher unter Weimar, massenhaften Auf- und Abstieg, Klassenvermischung und Klassenaufbrechung, ‚freie Bahn dem Tüchtigen’ – und dem Gesinnungstüchtigen; durchaus nicht alles daran war erfreulich anzusehen, aber ‚fortschrittlich’ im Sinne fortschreitender Egalisierung, war es unbestreitbar“, S. 49 f.
Weiter unten schreibt Haffner:
„Nichts ist irreführender, als Hitler einen Faschisten zu nennen. Faschismus ist Oberklassenherrschaft, abgestützt durch künstlich erzeugte Massenbegeisterung. Hitler hat wohl Massen begeistert, aber nie, um dadurch eine Oberklasse abzustützen. Er war kein Klassenpolitiker, und sein Nationalsozialismus war alles andere als ein Faschismus“, S. 77
Den austrofaschistische Ständestaat unter Dollfuß und Schuschnigg bekämpften die Nazis geradezu gnadenlos. Sie ermordeten Dollfuß und demütigten Bundeskanzler Kurt Schuschnigg nach der Annexion Österreichs zynisch. Sie hielten ihn bis zum Frühjahr 1945 gefangen. Seine geplante Ermordung in den letzten Kriegstagen misslang:
https://de.wikipedia.org/wiki/Befreiung_der_SS-Geiseln_in_S%C3%BCdtirol
Der Theoretiker des Ständestaates, Wegbereiter und Chefideologe des Austrofaschismus, Othmar Spann, der den „Anschluss“ Österreichs an Nazi-Deutschland forderte und dann freudig begrüßte, wurde nach der Besetzung Österreichs verhaftet und im KZ Dachau interniert.
Ausführlich zur Bekämpfung von Idee und Praxis des Ständestaats: Manfred Flügge: Stadt ohne Seele. Wien 1938, Berlin 2018
11. Anhang 3: Ernst Ottwalt: Deutschland erwache! Geschichte des Nationalsozialismus, Wien/Leipzig 1932
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Am 25. Juli 1931 brachte das demokratische »Berliner Tageblatt«, eine der wenigen deutschen Zeitungen, die Weltgeltung besitzen, einen Leitartikel, dessen Hauptsätze hier folgen mögen:
»Wer regiert heute in Deutschland? Die Parteien sind es bestimmt nicht. Auch die großen Wirtschafts- und Wehrverbände haben heute weniger zu sagen denn je. Die Herrschaft des Kabinetts Brüning im Reich und, ihm sekundierend, des Systems Braun in Preußen scheint unumschränkt zu sein. Gewisse Symptome deuten aber daraufhin, daß anonyme Kräfte, großkapitalistische, großindustrielle Kräfte, ihren Einfluß auf das Kabinett Brüning mehr und mehr verstärkt haben … Wer regiert heute in Deutschland? – Als die Notverordnung von Anfang Juni herausging, die eine außerordentliche steuerliche Bevorzugung des Produktivkapitals gegenüber allen übrigen Kapital- und Einkommenarten festsetzte, hat einer der wirklich Eingeweihten in einem Zeitungsartikel geschrieben: »Wer hinter die Kulissen sehe, der könne erkennen, welchen außerordentlichen Einfluß die Großindustrie auf die Formulierung des Gesetzestextes genommen habe«. Und das geschah bei einem Kabinett, das sich stets für das kleinere und mittlere Unternehmertum, für die selbständigen Kräfte in der Wirtschaft und gegen die großen Trust- und Konzerngewalten ausgesprochen hat! Diese Notverordnung brachte der chemischen Großindustrie, also der I. G. Farben, die Verwirklichung zweier Spezialwünsche: nämlich die Heraufsetzung des Benzinzolls, der als Finanzzoll gedacht war, aber nun – da keine Ausgleichsabgabe erhoben wird – als reiner Schutzzoll wirkt, und die Einführung von Stickstoffzöllen.
Großindustrie und Notverordnung
Allein der Benzinzoll bringt der I. G. neun Millionen Mark Mehrerlös. Auch die übrigen Gruppen der Großindustrie sind durch jene Notverordnung, die der gesamten übrigen Bevölkerung schwere Opfer auferlegte, beschenkt worden: im Arbeitsbeschaffungsprogramm, in der Eröffnung der Möglichkeit, die Soziallasten des Kohlenbergbaues zu senken. Wenige Tage später ist an die Firma Borsig eine größere Summe aus Reichsmitteln gezahlt worden – nicht als Subvention, wie es hieß, sondern als Vorschuß für später zu bewirkende Lieferungen an Reichsbehörden … Senkung der Löhne, der Gehälter, der Sozialleistungen, radikaler Abbau der öffentlichen Ausgaben, partielle Enteignung des Privatkapitals und Bankkapitals zugunsten des Werkkapitals oder vielmehr zugunsten der Arbeitsfähigkeit der Betriebe: so sieht in dürren Worten das Programm jener entschiedensten und radikalsten Teile der Industrie aus. Die Repräsentanten dieser Auffassung finden sich beim alten Besitz der Schwerindustrie, mehr noch vielleicht in den jungen, technisch vollkommenen und finanziell intakten Großindustrien, und bei der jungen Generation, die überall in den Betrieben steckt … Im übrigen sind die entfesselten nationalen Instinkte im Inneren die beste Schutzwehr gegen den ›Marxismus‹, der allein jene Entwicklung zur Werksherrschaft hin stören könnte. Mit dem Stahlhelm und mit den Nationalsozialisten kommt man gut aus: die christlichen Gewerkschaften stören nicht, wie man hofft, und mit den Kommunisten gedenkt man fertig werden zu können … Man soll nicht prophezeien. Dagegen muß man versuchen, das Gegenwärtige klar zu erkennen. Und in der Gegenwart marschiert der Geist von Leuna, der Werksgeist, der am Werke ist, aus unserem Vaterland eine I. G. Deutschland zu machen.«
Bedarf es anderer Kronzeugen als dieser erschütternden Darstellung eines republikanischen Weltblatts? Darf man angesichts solcher Tatsachen noch fragen, wohin der Weg der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei führen wird, auf dem sechs Millionen hoffnungsloser, verzweifelter, von apokalyptischen Ängsten gepeitschter deutscher Bürger dem großen Gaukler Hitler nachtaumeln?
Literatur
Aly, Götz: Hitlers Volksstaat, Frankfurt 2005
Bauman, Zygmunt: Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust, Hamburg 2002
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Goebbels, Joseph: Tagebücher 1945. Einführung Rolf Hochhuth, Hamburg 1977
Haffner, Sebastian: Anmerkungen zu Hitler, München 1978
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Kroll, Gerhard: Von der Weltwirtschaftskrise zur Staatskonjunktur, 750 S., (West-)Berlin 1958
Carl von Ossietzky: Gibt es noch eine Opposition?, in: Die Weltbühne vom 7. Januar 1930, S. 40
Postone, Moishe: Nationalsozialismus und Antisemitismus, 1979
Krisis. Kritik der Warengesellschaft, 31.12.1979
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Quietus (Walther Karsch): Hitlers Finanzen, in Die Weltbühne, I. Halbjahr 1932, S. 583 ff.
Speer, Albert: Erinnerungen, Frankfurt/Berlin 1969
Tomberg, Friedrich: Das Christentum in Hitlers Weltanschauung, Paderborn 2012
Tooze, Adam: Ökonomie der Zerstörung. Die Geschichte der Wirtschaft im Nationalsozialismus, München 2008
Turner, Henry A.: Die Großunternehmer und der Aufstieg Hitlers, Berlin 1985
Turner, Henry A. (Hg.): Hitler aus nächster Nähe. Aufzeichnungen eines Vertrauten 1929-1932 , Frankfurt, Berlin, Wien 1978
https://de.wikipedia.org/wiki/Industrielleneingabe
https://de.wikipedia.org/wiki/Cigarettenfabrik_Dressler
https://de.wikipedia.org/wiki/Gro%C3%9Findustrie_und_Aufstieg_der_NSDAP#Turner-Stegmann-Kontroverse
https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Herrscher
https://www.nber.org/papers/w24106.pdf
Bernd Schüngel
Einbeziehen:
„Zum einen sind die ideologischen Formen nicht einfach Bewusstseinsmanipulationen. Und zum anderen missversteht diese Auffassung das Wesen des „Antikapitalismus“ der Nazis – das Ausmaß, in dem es der antisemitischen Weltanschauung innerlich verbunden war. Es stimmt, dass auf den zu konkreten und plebejischen „Antikapitalismus“ der SA 1934 verzichtet wurde; nicht jedoch auf die antisemitische Grundhaltung – die „Erkenntnis“, dass die Quelle allen Übels das Abstrakte sei – der Jude.“
Moishe Postone: Nationalsozialismus und Antisemitismus
Rheinmetall
Während des Zweiten Weltkriegs wurde die Rüstungsproduktion maximal gesteigert und die Entwicklung neuer Waffensysteme gefordert. Der staatliche Einfluss durch Institutionen der Wehrmacht und die Eingliederung von Rheinmetall-Borsig in das Staatsunternehmen Reichswerke Hermann Göring nahm so weit zu, bis das Unternehmen vollständig verstaatlicht und in die planmäßige Kriegsvorbereitung integriert wurde.
https://de.wikipedia.org/wiki/Rheinmetall#Zweiter_Weltkrieg
Reichswerke Hermann Göring
1942 wurde der Konzern neu strukturiert und die profitabelsten Tochtergesellschaften reprivatisiert. Der Konzern sollte nach dem Krieg aus betriebswirtschaftlichen Gründen vollständig reprivatisiert werden.
Am 15. August 1944 gehörten den Reichswerken 260 Unternehmen mit einem Nominalkapital von 2,8 Milliarden Reichsmark. Die Reichswerke waren der größte und kapitalstärkste Konzern im Reich geworden.
https://de.wikipedia.org/wiki/Reichswerke_Hermann_G%C3%B6ring