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Januar | 1993

Löst die Probleme des Kapitalismus


Ökonomie der nutzlosen Dinge

 

Laut dpa entwickelt der japanische Erfinder Kawakami unter der Bezeichnung ‚Chindogu’ systematisch praktische Dinge ohne Gebrauchswert. Die Mühen des Haushalts haben den Meister zur Erfindung eines Arsenals von ‚nutzlosem’ Zeug inspiriert: Mit einer Miniwaschmaschine, die um den Unterschenkel geschnallt wird, bleibe die Hausfrau auch am Waschtag mobil. Das Trocknen der Socken erledige der golfbegeisterte Ehemann mit einem Wäscheschläger. Tierliebe Japaner, die frischen Fisch mögen, könnten nun ohne Reue genießen: Eine ‚Kopfmaske’ verdecke bei der Zubereitung die anklagenden Augen des Tieres.

Kawakamis zwei Chindogu-Handbücher, in denen er seine bislang 300 Erfindungen vorstellt, seien Kassenschlager in Japan. In kaum einem Werk käme die Chindogu-Philosophie besser zum Ausdruck als in Kawakamis Solar-Taschenlampe: Sie gibt strahlendes Licht – aber nur bei strahlendem Sonnenschein.

Soweit die dpa-Meldung. Ihr Gegenstand wurde leider von der Presse als Kuriosität missverstanden.

In Wirklichkeit verbirgt sich dahinter eine Philosophie, die geeignet ist, die schweren wirtschaftlichen Probleme der entwickelten Industrieländer in kurzer Zeit dauerhaft zu lösen: Der Erfinder Kawakami hat den Mut, die Ware von der längst wirtschaftlich unvernünftig gewordenen Auflage des praktischen Nutzens zu befreien.

Die Menschen in den hoch industrialisierten Ländern sind, sofern sie über Geld verfügen – und nur diese sind interessant für den Wirtschaftskreislauf – weitestgehend mit allen Gegenständen versorgt, die irgend einen praktischen Nutzen haben. Zunehmend wird nur noch gekauft, um Verschlissenes und aus der Mode Gekommenes zu ersetzen.

Das hat schlimme Folgen: Neue Investitionen lohnen nicht; die Arbeitslosigkeit nimmt zu; die Einnahmen der Rentenkassen reichen nicht mehr aus, um den Lebensstandard der Alten zu sichern; die Steuereinnahmen des Staates gehen zurück, wodurch er sich außerstande sieht, Kindergärten, Universitätslabore und Autobahnen zu bauen, die Luftwaffe mit dem Jäger 90 und die Polizei mit Computern auszustatten, Diäten zu erhöhen und den Ärmsten unter die Arme zu greifen. Weitere konjunkturelle Einbrüche stehen damit bevor.

Hier setzt Chindogu ein. Die massenhafte Vermarktung immer neuer nutzloser Dinge würde der Wirtschaft unerschöpfliche Wachstumsimpulse verleihen. Nachdem die Automobilindustrie als letzter großer Boomfaktor ihre Dynamik wegen des Fehlens von Parkplätzen für Drittwagen eingebüßt hat, wäre Chindogu der neue Träger von Wachstum und Wohlstand – und gleichzeitig auch der letzte große Boomfaktor in der Geschichte unseres Wirtschaftssystems, da er bei vernünftiger Handhabung durch uns alle niemals an Sättigungsgrenzen stößt, solange die Natur mitspielt.

In früheren Phasen unserer Wirtschaftsordnung mussten die Menschen wiederholt Kriege zu Hilfe nehmen, um „nutzloses Zeug“ ohne Scham produzieren zu können und um durch die Vernichtung von nützlichen Dingen Platz für neue Produkte und damit für den wirtschaftlichen Aufschwung zu schaffen. Diese unbequeme und heute auch mit schwer zu kalkulierenden Nebenfolgen verbundene Methode wird durch Chindogu überflüssig. Der Kauf nutzlosen Zeugs ist also auch praktische Friedensarbeit.

Erforderlich ist nur ein Marketing, das zum einen den Spaß an ‚nutzlosem Zeug’ entwickelt und Kauf und Vorzeigen solcher Artikel gesellschaftsfähig macht, zum anderen überzeugend eine neue ethische Grundhaltung verbreitet. Jeder Konsument, der sich eine mit den aktuellen High-Tech-Raffinessen ausgestattete und von einem hoch dotierten Designer-Studio ästhetisch anspruchsvoll gestylte Miniwaschmaschine aus besten Rohstoffen um den Unterschenkel schnallt, muss bis in seine tiefste Psyche davon überzeugt sein, dass er damit eine gute Tat vollbringt: In einer wirtschaftlichen Situation, die viele für aussichtslos halten, löst er Investitionen aus und schafft Arbeitsplätze. Gleichzeitig sorgt er dafür, dass der Staat wieder aus dem Vollen schöpfen kann, wodurch wiederum private Einnahmen entstehen, die für nutzlose Dinge ausgegeben werden können. Ein herrlicher Kreislauf, ein Perpetuum mobile wirtschaftlicher Blüte! Endlich wieder eine Zukunft, auf die hinzuarbeiten lohnt.

Die Weltbühne, 88. Jahrgang, Berlin, 9. Februar 1993, Heft 6, S. 174–175