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Februar | 2015

Kritik der reinen Unvernunft


Griechenland-Rettung: Banken oder Menschen?

 

Die Reaktion der meisten unserer Politiker und Medien auf den Wahlsieg von Syriza brachte es an den Tag. Das Mantra der Austeritätspolitiker und die „Lehre“ der hinter ihnen stehenden Wirtschafts„wissenschaft“ besagt: Wenn Du willst, dass die Kinder in Griechenland Ärzte haben, dass also die seit vier Jahren immens gestiegene Kindersterblichkeit sinkt, ebenso die gestiegene Suizidrate, und auch die Jugendarbeitslosigkeit von 60 %, und die arm gemachten Rentner wenigstens eine gehaltvolle Suppe bekommen, wenn Du das alles wirklich willst, dann musst Du den Rentnern die Suppe nehmen, noch mehr Menschen in die Arbeitslosigkeit schmeißen, dann musst Du Ärzte entlassen und Krankenhäuser schließen. Und den Studenten die Stipendien streichen – langfristig besonders wachstumsfördernd. Wenn Du dann den Menschen so gut wie alles genommen hast (und wem gegeben?), dann springt die Wirtschaft an – Nachfrage! Aufschwung! Konjunktur! Gewinne zum Investieren! Arbeitsplätze, Staatseinnahmen für das Sozialsystem. Und Exportüberschuss! Wenn alle wie von der EU gewünscht sparen, vor allem an Lohnkosten, Sozialleistungen, Bildung und Renten, erzielen auch Spanien, Portugal, Italien, Frankreich, Irland, Bulgarien Rumänien, Zypern Exportüberschüsse, und Deutschland exportiert wie bisher auf Weltrekordhöhe. Meine Kenntnisse in Mathematik reichen nicht aus, um diese Berechnung nachvollziehen zu können.

Die Verfechter der Austeritätspolitik glauben (durchaus im religiösen Sinne), dass eine Volkswirtschaft durch substantielles Sparen bei Staatsausgaben und Masseneinkommen und Senkung des Lebensstandards zu Exportüberschüssen, Wachstum, Vollbeschäftigung und allgemeinen Wohlstand gelangen kann. Den Vertretern dieser Ideologie, in Deutschland Schäuble, Seehofer, Söder, Dobrindt, Kauder usw. ist offensichtlich die Senkung der Kindersterblichkeit und der Jugendarbeitslosigkeit, die Eindämmung des ganzen Elends kein politisches Ziel. Sie lassen keinerlei Motivation, geschweige denn die konkrete Absicht erkennen, die sozialen Verwerfungen in Griechenland und in den anderen „Krisenländern“ anzugehen. Die viel beschworenen Milliarden haben nicht „die Griechen“, sondern die Gläubiger- (besser: Zocker-) Banken, vor allem deutsche und französische, bekommen. Wie hoch sind die Gehälter und Boni dort?

 

Das Scheitern der Austeritätspolitik

Die Austeritätspolitik ist gescheitert, auch in ihren erklärten Zielen: In Griechenland ist mit dem Spardiktat das Sozialprodukt gesunken und die Staatsverschuldung, dessen Senkung doch das Ziel Nummer eins war und wofür alle diese Einschnitte zulasten der Bevölkerung gut sein sollten, ist von 120 % auf 176 % des BIP gestiegen. Namhafte wissenschaftlichen Beobachter wie Träger des Nobelpreises für Wirtschaft, Autoren wie Krugmann, Blyth, Quiggin, Tooze, Streeck, Flassbeck, Horn und viele andere beweisen das Scheitern und entlarven den fundamentalen Irrtum der Austeritätspolitik. Nur Schäuble und seine Mittäter halten mit geradezu religiöser Inbrunst an ihrem Dogma fest. Griechenland ist hierin kein Einzelfall: 400.000 Portugiesen mussten ihr Land verlassen, weil sie dort keine Lebensgrundlage mehr hatten. Worin besteht der angebliche Erfolg Portugals, Spaniens und Irlands? Dass die Rating-Agenturen Staatsanleihen dieser Länder wieder höher bewerten. Wer kann sich etwas dafür kaufen – und wer nicht?

Warum dann das Ganze? „Der Grund für die Austeritätsidee ist zum einen ihre verführerische Einfachheit und zum anderen die Tatsache, dass sie es konservativen Kräften erlaubt, den verhassten Wohlfahrtsstaat aus scheinbar plausiblen Gründen zurecht zu stutzen. … Die Austerität … funktioniert nicht in der Praxis und sie lässt die Armen für die Fehler der Reichen bezahlen“, Mark Blyth: Wie Europa sich kaputtspart. Die gescheiterte Idee der Austeritätspolitik, Bonn 2014, S. 34. Die Troika hat von den griechischen Regierungen niemals verlangt, die Reichen der Notlage des Landes angemessen zu besteuern, oder wenigstens in gleicher Weise wie die kleinen Leute. Sie hat niemals zur Auflage gemacht, die Ermittlungen gegen die 2062 namentlich bekannten Steuerhinterzieher der Lagarde-Liste endlich einzuleiten. Auch Schäuble hat das von griechischen Regierungen niemals verlangt. Aber die Troika und Schäuble haben den Griechen zur Auflage gemacht, das ohnehin überwiegend klägliche Sozialsystem radikal zusammen zu streichen.

Tsipras und Varoufakis wissen, dass nach Ende des Spardiktats die Griechen ihre Wirtschaft und ihre Staatsfinanzen selbst in Ordnung bringen müssen. Die Realisierung ihres Programms wird davon abhängen, ob es der neuen Regierung gelingt, Steuerhinterziehung erheblich einzudämmen und – noch wichtiger – die Steuerimmunität der Reichen aufzuheben. Und eine halbwegs effiziente Finanz- und allgemeine Staatsverwaltung zu schaffen. Das wird am schwersten sein. Am zweitschwersten: Die Infrastruktur entwickeln und private Investitionen anregen. „Mit Feta, Oliven und Touristen allein ist kein Staat zu machen“, taz.

 

Marshallplan für Griechenland

In der aktuellen Debatte tauchte bei Kritikern der Austeritätspolitik die Idee eines Marshallplans für Griechenland auf, gemeinsam finanziert von den Staaten der EU einschließlich Griechenlands. Der historische Marshallplan nach dem Zweiten Weltkrieg kam vor allem der jungen Bundesrepublik zugute. Der enorme Erfolg des Marshallplans in Westdeutschland beruht auch auf einer wesentlichen Absicherung: das Londoner Schuldenabkommen von 1953. Der BRD wurden die meisten Schulden aus der Vorkriegszeit erlassen, die Zahlung der Restschulden gestreckt und an den deutschen Export gebunden, so dass die Fälligkeiten die boomende deutsche Wirtschaft überhaupt nicht belasteten. Die letzte Rate hat die Bundesrepublik 1988 beglichen, wie immer von niemanden wirklich gespürt. Das deutsche „Wirtschaftswunder“ wäre ohne den Schuldenschnitt von 1953 nicht möglich gewesen. Man sehe sich nur die Not der Weimarer Regierungen an, angesichts dieser Schuldenlast – und die Folgen dieser Not!

Es lohnt ein Blick auf Island, das weit stärker von der Bankenkrise betroffen war. Island stand 2008 vor einem Schuldenberg, der dem Zehnfachen des BIP entsprach. Unter dem Druck der Bevölkerung hat es die Regierung aber abgelehnt, den Auflagen des IWF zu folgen. Die Schulden wurden annulliert. Nach einigen durch den Druck „der Märkte“ harten Jahren geht es den Isländern jetzt gut. Islands oberster Gerichtshof verurteile in der vergangenen Woche vier Bankmanager zu Haftstrafen zwischen vier und fünfeinhalb Jahren – wegen betrügerischer Marktmanipulation und Untreue.

Wir haben es in Griechenland im Unterschied zu Island vor allem mit einer Inlandskrise zu tun. Doch wir sollten nicht übersehen, dass die europäischen Banken, Fonds und sicher auch die großen Versicherungen unbekümmert immer wieder griechische Staatsanleihen gekauft haben, im Wissen vom hohen und ständig wachsenden Schuldenstand des griechischen Staates. In Banker-Kreisen wurde ganz offen davon gesprochen, dass „die Politik“ Griechenland nicht bankrott gehen lassen wird. Da haben sie ja richtig gelegen. Und hat die Bundesregierung darauf hingewirkt, dass die völlig überdimensionierten, weitgehend überflüssigen Rüstungsaufträge des griechischen Staates an deutsche Konzerne storniert werden? Dieses Geschäft geht weiter, business as usual.

 

„Die Griechen“ sind schuld!

Ein Freund schrieb mir: „Auch die härtesten Hilfe-Gegner haben in der Ursachen-Analyse natürlich irgendwo recht: in dem System Klientel-Politik, Vetternwirtschaft und Fakelaki hat sich eine ganze Gesellschaft über Jahrzehnte ganz gut eingerichtet und die Wähler haben die Parteien gewählt, die eine Fortsetzung auf Pump versprochen haben.“
Gerne, anscheinend besonders gern in Deutschland, wird die griechische Bevölkerung insgesamt für die Krise ihres Landes selbst verantwortlich gemacht. Ja, die Griechen haben immer wieder ND und PASOK gewählt.

Im Jahr 1976 war ich in Griechenland in einem größeren Dorf in einer Nicht-Touristen-Gegend (Vori auf Kreta). Es war die Zeit der Gründung der PASOK. Mit großer Euphorie und großen Erwartungen haben sich breite Schichten, vor allem die unteren natürlich, besonders erkennbar die Jugendlichen, aber auch viele Akademiker der PASOK zugewandt. Erst ganz allmählich erkannten sie deren Versagen – man kann es auch Verrat nennen. Es ist ein psychologisches Gesetz, dass Menschen sich nicht so schnell von einer sehr großen, das eigene Leben zentral betreffenden Hoffnung abwenden. Und welche Wahl-Alternative und welche andere Hoffnung hatten diese Menschen? Keine!

Die Behauptung, die ganze Gesellschaft habe sich über Jahrzehnte über die Verschuldung ihres Landes auf Kosten anderer „ganz gut eingerichtet“, entbehrt als Gesamtbild „der Griechen“ jeder Grundlage. Die „einfachen“ Menschen haben diese Verhältnisse, an denen sie ohnehin nichts ändern können, hingenommen und versucht, irgendwie durch zu kommen und für sich das beste daraus zu machen, z.B. mit ihren „kleinen“ Steuerhinterziehungen, Erkaufen von persönlichen Vorteilen (die „kleine“ alltägliche Bestechung, meist unvermeidlich – das System Fakelaki). Auch haben sie das auf Import gestützte reichhaltige, in Griechenland bisher unbekannte Konsumangebot gerne angenommen, ohne nach seinen volkswirtschaftlichen Implikationen zu fragen. Damit haben sie sich nicht anders verhalten als die große Mehrheit z.B. in Deutschland es tut. Doch sehr viele, wohl die meisten, haben hart gearbeitet und tun es auch heute, was ich aus 21 Aufenthalten bezeugen kann: in den Handwerksbetrieben, im Tourismus, im Bildungs- und im schon immer völlig unzureichenden Gesundheitssystem, in der Landwirtschaft von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang die Fischer, denen große Fangschiffe aus hoch entwickelten europäischen Ländern sowie Einleitungen vor allem Italiens die Existenzgrundlage genommen haben. (Es waren nicht die Dynamit-Fischer!)

Bisher sind diese Menschen von allen Regimen betrogen worden – von den Eliten in Wirtschaft und Politik, die sich an eben jener Verschuldung, aber auch an den „Beihilfen“ der EU skrupellos bereichert haben. Das Problem des Landes ist seine gnadenlos asoziale, obszön reiche Oberschicht. Und genau für die haben EU, Eurogruppe, EZB und somit die reicheren Staaten Europas die Steuermilliarden gezahlt.

 

Von „uns Deutschen“ lernen?

Als Deutscher scheint mir grundsätzlich Zurückhaltung geboten hinsichtlich von Vorwürfen, sich in Verhältnissen, die zu Lasten anderer funktionieren, gut einzurichten. Die meisten Deutschen haben sich von 1933 bis gegen Ende der Nazizeit „ganz gut eingerichtet“, seit Kriegsbeginn in kriminell hohem Maße zu Lasten der Menschen in den besetzten Ländern (Götz Aly, Adam Tooze). Und heute richten wir uns seit Jahrzehnten ganz gut ein mit in der Geschichte der Weltwirtschaft nie da gewesenen Überschüssen unserer Leistungsbilanz – zu Lasten anderer. Aber auch zu Lasten der eigenen Arbeitnehmer: Reallohnsenkung, Wucherung des Niedriglohnsektors usw.. Immerhin steht hinter diesem Leben auf Kosten anderer die hoch entwickelte Fähigkeit, Produkte herzustellen, die in der ganzen Welt begehrt sind. Davon kann Griechenland auf lange Sicht leider nur träumen.

Zur unerträglichen Selbstgerechtigkeit und moralischen Überheblichkeit deutscher Politiker und ihrer Wähler vom Stammtisch ein Griff in die Geschichte: Die Mehrheit der Griechen hat dem Faschismus in weit höherem Maße widerstanden als die übergroße Mehrheit der Deutschen. Sie hat ihre Diktatur aus eigener Kraft gestürzt, unter großen Opfern, während die meisten Deutschen ihrem „Führer“ bis fünf nach zwölf gefolgt sind. Auch das sollten wir bedenken, bevor wir abfällige Urteile über „die Griechen“ fällen.

Für den Aufbau eines produktiven industriellen Sektors und der Infrastruktur, Bildung und Gesundheitssystem inklusive, braucht Griechenland die solidarische Hilfe Europas, als Ergänzung eigener substantieller Anstrengungen. Diese Anstrengungen gab es unter den bisherigen Regierungen nicht.

 

Zur Solidarität der „Europäischen Wertegemeinschaft“:

„Und dann gibt es noch die Sache mit den Flüchtlingen: Ich werde berechnen, was die Kosten für ihre medizinische Versorgung sind. Müssten sie nicht von der gesamten europäischen Gemeinschaft getragen werden, je nachdem, wie groß die Wirtschaftskraft ist?
Wir sind gut informiert. Wir sind stolz. Und wir werden die, die uns gewählt haben, verteidigen.“

Panagiotis Kouroumplis, griechischer Gesundheitsminister, ZEIT Online, 6.2.2015

 

Anhang

Die Griechen sind faul und geben das Geld anderer Länder aus
Es ist eine beispiellose Kampagne: Flankiert von der Bild-Zeitung und befeuert besonders durch Äußerungen aus der CSU wurden Griechen in den vergangenen Jahren als „faul“ gebrandmarkt. „Dass andere an unser Geld wollen, ohne sich dabei zu viel zuzumuten, ist zutiefst menschlich, aber es ist keine Lösung des Problems“, befand CSU-Chef Horst Seehofer in einem stern-Interview. Und der heutige Verkehrsminister Alexander Dobrindt warnte, die Eurozone dürfe nicht zum „Hängematten-Club“ verkommen.
Tatsächlich arbeitet kein Volk in Europa so viel wie die Griechen. Das legen zumindest Zahlen der OECD nahe, aus denen die BBC zitiert. Die Hellenen führen das Ranking mit den am meisten geleisteten Arbeitsstunden an, gefolgt von Ungarn und Polen. Deutschland schafft es nur auf den vorletzten Platz der Länderauswahl. Den Daten zufolge kommt jeder Deutsche im Schnitt auf knapp 1.400 Stunden im Jahr – die Griechen bringen es auf mehr als 2.000. Allerdings muss man der Fairness halber erwähnen, dass die Deutschen wesentlich produktiver sind. Der Vorwurf der Faulheit geht bei den Griechen jedoch ins Leere.

ZEIT-Online am 10.2.2015

 

Bei gebotener Skepsis hinsichtlich der Berechnung der Arbeitsstunden dürfte sich doch das Gerede von den faulen Griechen als Rufmord entlarven.

„Hinzukommt ein weiterer Punkt. Wenn Syriza es schafft, ein eigenes radikales Reformprogramm – nicht nur, aber vor allem für den öffentlichen Dienst – aufzustellen und umzusetzen, hat sie gute Argumente, diejenigen „Reformen“ der Troika abzulehnen, die unter dem Vorwand der „Krisenlösung“ lediglich den Abbau des Sozialstaats vorangetrieben haben. Dazu gehört ganz bestimmt das neoliberale Projekt der „Deregulierung“ des Arbeitsmarkts, die Einschränkung gewerkschaftlicher Rechte und vor allem das Dogma der „Privatisierung um jeden Preis“, das zu Krisenzeiten auf ein Verramschen öffentlichen Eigentums hinausläuft.

Wie ineffektiv und asozial dieser Ausverkauf ist, lässt sich an den wenigen „gelungenen“ Privatisierungsprojekten zeigen. Die nominell größte Einnahme erzielte der Staat bislang mit dem Verkauf ihrer Anteile an der Lotto-Gesellschaft Opap, für die 652 Millionen Euro eingelöst wurden. Dabei ist die Opap eine Gewinnmaschine, die dem Fiskus jährlich rund 200 Millionen Euro eingespielt hat. Der Staat hätte sich langfristig mehr Einnahmen gesichert, wenn er die Opap nicht verscherbelt hätte.

Der Käufer, ein Konsortium aus osteuropäischen und einem griechischen Oligarchen, war im Übrigen der einzige Bieter und konnte so den Preis diktieren. Das gilt auch für alle weiteren Privatisierungen, etwa für die gigantische Immobilie des früheren Athener Flughafens Ellinikon. Das Konsortium, das sie erwarb – der griechische Oligarch Spyros Latsis mit arabischen und chinesischen Teilhabern – zahlte für das küstennahe Areal mit 577 Millionen Euro gerade mal die Hälfte des Schätzpreises.

Allerdings werden sich die griechischen Steuerzahler gegen Privatisierungen nur dann mobilisieren lassen, wenn die öffentlichen Unternehmen oder Träger von Dienstleistungen in Zukunft kundenfreundlicher und kostengünstig organisiert werden, statt der klientelistischen Personalpolitik der politischen Klasse zu dienen. Das aber erfordert eine gründliche Evaluierung des gesamten öffentlichen Sektors.

Um nur ein Beispiel zu nennen: Die Kfz-Zulassungsstelle von Athen ist eine Behörde mit über 500 Angestellten. Wenn man ein Auto mit ausländischer Nummer ummelden will, braucht man in dieser Behörde einen ganzen Tag und 14 Stempel für alle möglichen Dokumente. Wobei hinter jedem Stempel eine Arbeitskraft sitzt, die sich an diesem Stempel festhält, bis sie in Rente geht. Eine Umsetzung oder Umschulung solcher Staatsdiener würde den öffentlichen Dienst nicht nur effektiver machen, sondern auch qualitativ verbessern.“

Niels Kadritzke in Le Monde diplomatique vom 13.2.2015

 

Auszug aus einem ZEIT-Interview mit Panagiotis Kouroumplis, Gesundheitsminister der Syriza-Regierung:

Kouroumplis: Alexis Tsipras ist ein sehr ehrlicher Mensch. Er ist der erste Premierminister, der in einem normalen Viertel in Athen wohnt und unter seinen Verhältnissen lebt. Obwohl er Atheist ist, hat er viele Würdenträger der Kirche von sich überzeugt. Er bringt eine neue Frische in dieses Land. Vielleicht klingt das komisch, aber es gibt jetzt ein Element von erotischer Aufregung in der Politik (lacht). Es ist zum Beispiel das erste Mal, dass ein Mensch in einer Besonderheit wie ich Minister wird.

ZEIT ONLINE: Sie sind der erste blinde Minister Griechenlands.

ZEIT ONLINE: Was wollen Sie in ihrem Amt als Gesundheitsminister erreichen?

Kouroumplis: In meinem Feld gibt es sehr große finanzielle Interessen. Multinationale Pharmafirmen haben hier so große Profite gemacht wie in einem Land mit 40 Millionen Einwohnern (Griechenland hat eine Bevölkerung von etwa 10 Millionen, Anm. d. Red.). Ihre Bilanzen zeigen, dass der Handel läuft, sie aber Verluste machen. Wenn ich sie treffe, werde ich sie fragen, wo sie ihre Steuern zahlen. Ich bin der Gesundheitsminister von Griechenland und ich sage Ihnen: Entweder bekommen die Menschen ihr Recht oder ich trete zurück.

ZEIT ONLINE: Ihre beiden Vorgänger haben dem Gesundheitssektor harte Sparmaßnahmen verordnet. Welche Auswirkungen hatten sie auf die Krankenhäuser?

Kouroumplis: Die Krankenhäuser sind in einem furchtbaren Zustand. Unser Gesundheitswesen entstand in den achtziger Jahren; Tausende Menschen, die damals beitraten, sind nun in Rente. Viele gute Ärzte sind nach Deutschland gegangen. Wir haben einen schweren Personalmangel, durften in den letzten Jahren aber keine Leute einstellen. Drei Millionen Menschen haben keine Krankenversicherung. Wie jeder in Europa will ich an die Vision von einem Leben in Würde glauben. Aber ich kann nachts nicht schlafen, wenn hier Kinder ohne Essen, ohne medizinische Versorgung aufwachsen. Ich weiß, dass ich nicht in einem armen Land lebe, aber ich lebe in einem Land, in dem die Menschen arm sind. Die Europäer wussten, das in Griechenland etwa passiert, aber sie taten so, als wüssten sie es nicht. Soll ich Ihnen mal eine Geschichte erzählen, was uns hier im Ministerium passiert ist?

ZEIT ONLINE: Was ist passiert?

Kouroumplis: Es gibt da ein großes öffentliches Gebäude von 32.000 Quadratmetern, wo das Ministerium einmal hinziehen sollte. Vor ein paar Jahren hat die Privatisierungsagentur, die die Troika eingesetzt hat, das Gebäude an eine Bank verkauft. Sie hat es an das Ministerium zurückvermietet, für jährlich fünf Millionen Euro. Nun haben wir festgestellt, dass in dem Gebäude nur eine Behörde für Notfalldienste mit 30 Leuten untergebracht war. Der Rest des Gebäudes ist leer und nutzlos für das Ministerium. Also habe ich angeordnet, dass diese Behörde in ein öffentliches Gebäude umzieht. Aber die Irrationalität ist noch nicht zu Ende: In dem Vertrag steht, dass das Ministerium auch dann die Miete zahlen muss, wenn es das Gebäude räumt. Solange, bis ein neuer Mieter gefunden ist. Aber wer würde in Zeiten der Krise schon so ein großes Gebäude mieten? Und warum sollte sich der Eigentümer um einen Nachmieter kümmern, wenn wir doch zu den Zahlungen verpflichtet sind?

ZEIT ONLINE: Was wurde aus dem Geld?

Kouroumplis: Es wurde benutzt, um die Schulden abzubezahlen. Aber das Gebäude an sich wird nicht benutzt. Es ging nur darum zu zeigen, dass man Privatisierungen durchführt. Nennen Sie das Reform?

ZEIT Online vom 6.2.2015