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September | 2017

Industrieller, Schriftsteller, Politiker 1867–1922


Walther Rathenau

 

Vor 150 Jahren, am 29. September 1867, wurde der Großindustrielle, erfolgreiche sozialphilosophische Autor, Leiter der Kriegsrohstoffbehörde, Reichsaußenminister, das Femeopfer Walther Rathenau geboren. Was für ein Mensch war er? Lassen wir ihn selber aus seinen Schriften sprechen, und zum Schluss seinen Biographen Ernst Schulin.

„In den Jugendjahren eines jeden deutschen Juden gibt es einen schmerzlichen Augenblick, an den er sich zeitlebens erinnert: wenn ihm zum ersten Male voll bewusst wird, dass er als Bürger zweiter Klasse in die Welt getreten ist und dass keine Tüchtigkeit und kein Verdienst ihn aus dieser Lage befreien kann“ (1911).

Von kommenden Dingen (1917)

Betrachtet man … die Produktion der Welt, so zeigt ein furchtbares Erschrecken uns den Irrsinn der Wirtschaft. Überflüssiges, Nichtiges, Schädliches, Verächtliches wird in unseren Magazinen gehäuft, unnützer Modetand, der wenige Tage lang falschen Glanz spenden soll, Mittel für Rausch, Reiz und Betäubung, widerliche Duftstoffe, haltlose und missverstandene Nachahmungen künstlerischer und kunstgewerblicher Vorbilder, Gerätschaften, die nicht dem Gebrauch, sondern der Blendung dienen, Albernheiten, die als Scheidemünze eines erzwungenen Geschenkverkehrs umlaufen; alle diese Nichtigkeiten füllen Läden und Speicher in vierteljährlicher Erneuerung. Ihre Herstellung, ihr Transport und Verschleiß erfordert die Arbeit von Millionen Händen, fordert Rohstoffe, Kohlen, Maschinen, Fabrikanlagen und hält annähernd den dritten Teil der Weltindustrie in Atem. Wer im Wirtshaus die unvergleichliche Höhe unserer Kulturepoche gepriesen hat, der möge auf dem Heimwege in die Straßenläden blicken und sich davon überzeugen, dass unsere Kultur seltsame Begehrlichkeiten pflegt; wer eine Rasenfläche von dem läppischen Humor tönerner Gnomen, Hasen und Pilze geschändet sieht, der möge sich bei diesem Sinnbilde der missleiteten Wirtschaft unserer Zeit erinnern. Würde die Hälfte der verschwendeten Weltarbeit in fügliche Bahnen gewiesen, so wäre jeder Arme der zivilisierten Länder ernährt, bekleidet und behaust.

… (Es) sei bedacht, dass aus der ersparten Vergeudung unseres Zeitalters die Zukunft Mittel schöpfen kann und wird, um gerechten Wohlstand über Alle zu breiten. Uns steht die Aufgabe zu, den Missstand zu erkennen und Abhilfe zu suchen, in dem Bewusstsein, dass Güterverbrauch nicht Privatsache ist, dass dieser Verbrauch aus Vorräten an Kräften und Stoffen geschöpft wird, die in begrenztem Maße zuströmen und für die wir Verantwortung tragen.

… Wer ist reich und mit welchem Recht? Wer darf sagen: Aus dem Gesamtvermögen und dem Ertrag der Welt gebührt mir das Zehnfache, Hundertfache, Zehntausendfache dessen, was der Durchschnitt der Menschheit besitzen und verbrauchen darf? Woher stammt persönlicher Reichtum und wie wird er erworben?

…Die heutigen Quellen des Reichtums sind Monopole im weitesten Sinne, Spekulation und Erbschaft. Der Monopolist, Spekulant und Großerbe hat in der künftigen Wirtschaftsordnung keinen Raum.

Beschränkung des Erbrechts, Ausgleich und Hebung der Volkserziehung sprengen den Abschluss der Wirtschaftsklassen und vernichten die erbliche Knechtung des untersten Standes. Im gleichen Sinne wirkt die Beschränkung luxuriösen Verbrauchs, indem sie die Weltarbeit auf die Erzeugung notwendiger Güter verweist und den Wert dieser Güter, gemessen am Arbeitsertrage ermäßigt.

Auf diesen Grundsätzen ruht das System des wirtschaftlichen Ausgleichs und der sozialen Freiheit.

… Das Schöpfen aber wird leicht und frei, wenn nicht mehr eigne Gier das Überflüssige verlangt und fremde Gier alle Quellen leer trinkt, weil sie ein Drittel der Weltarbeit in Kram und Tand vergeuden muss. Mit Entsetzen durchschreitet ein denkender Mensch die Straßen und erblickt die Kaufläden, Magazine, Warenlager und Arbeitshöfe. Schauderhaft hässlich, gemeinen Lüsten dienend, läppisch und schädlich, nichtig und hinfällig ist das Meiste, das sorgsam gespeichert, glänzend hingestellt und teuer feilgeboten wird. Ist es wahr und möglich, dass Millionen frönen um diese Dinge zu machen, zu transportieren, zu verkaufen, die Werkzeuge und Rohstoffe zu schaffen und zu sammeln, damit sie gemacht werden können; dass Millionen abermals frönen, um die Gräuel erwerben zu dürfen, und Millionen sie hoffnungslos begehren und entbehren? Es gehört Kraft dazu, um an eine Menschheit zu glauben, die von solchen Dingen und für solche Dinge lebt. Was tut sie damit? Sie speichert sie in ihren Häusern, verzehrt sie im Übermaß, hängt sie um ihre Leiber, steckt sie in Haare, Ohren und Taschen, lässt sie in Althandlungen, Auktionslokalen, Leihäusern einen zweiten und dritten Kreislauf beginnen, und schafft zuletzt nach Afrika, was nicht im Abfallhaufen oder Schmelzofen sein Ende und seine Erneuerung gefunden hat. Was bezweckt eine zivilisierte Menschheit mit diesem Unfug des Warenhungers, der Gier nach käuflichen Substanzen? Ein wenig Bequemlichkeit und Sinnenreiz. Dann aber, und vor allem: Schein und abermals Schein. Es soll nach etwas aussehen. Man hat irgendwo ein prächtiges Ding gesehen und möchte das gleiche haben; wo nicht das gleiche, so doch ein scheinbar ähnliches. Es soll Eindruck gemacht werden; die anderen sollen staunen und beneiden. Man möchte etwas reicher scheinen, als man ist, weil nach der entsetzlichen Vorstellung der Zeit Reichtum Ehre bringt.
Dieser Hang zum Narrenstand und zur Sklavenfreude kann nicht ewig sein. Er ist es nicht. Wäre er ewig, so schwände jede Hoffnung, ein stolzes und würdiges Menschenvolk erwachsen zu sehen.

 

Wirtschaft, Staat und Gesellschaft (1918)

Wer mechanische Arbeit am eigenen Leibe kennengelernt hat, wer das Gefühl kennt, das sich ganz und gar in einen schleichenden Minutenzeiger einbohrt, das Grauen, wenn eine verflossene Ewigkeit sich durch einen Blick auf die Uhr als eine Spanne von zehn Minuten erweist, wer das Streben seines Tages nach einem Glockenzeichen misst, wer Stunde um Stunde seiner Lebenszeit tötet, mit dem einzigen Wunsch, dass sie rascher sterbe“, der wird das Märchen von der Arbeitslust mit Hohn beiseiteschieben und zugeben, dass eine Kürzung der Arbeitszeit, gleichviel was an ihre Stelle tritt, für den mechanisch Arbeitenden ein Lebensziel bedeutet.“

Doch er weiß noch ein anderes. Er kennt die tödlichste Ermüdung, die Ermüdung der Seele. Nicht die aufatmende Ruhe nach gesunder leiblicher Arbeit, nicht die ablenkungsbedürftige Entspannung nach geistiger Leistung, sondern die leere, ausgepumpte Stumpfheit, die dem Ekel eines Missbrauchs gleichkommt. Es ist seichtes Teestubengewäsch, hier gute Musik, erbauliche und belehrende Vorträge, einen fröhlichen Spaziergang in Gottes freier Natur, ein lauschiges Lesestündchen bei der Lampe und dergleichen mehr zu empfehlen. Schnaps, Karten, Agitation, Kino und Ausschweifung können die misshandelten Muskeln und Nerven noch einmal aufpeitschen, bis der nächste Tag sie von neuem zermürbt.

 

Zur Kritik der Zeit (1912)

In Parenthese darf hier bemerkt werden, dass aus dem Kontrast (zu England) der Wert unserer sozialen Gesetzgebung deutlich hervortritt. Eine Sicherung des Arbeiters gegen Gefahren und Alterssorgen wäre zwar sicherlich auch ohne gesetzliches Zutun, auf der Grundlage privater Assoziationen, zustande gekommen; aber diese Assoziationen hätten wahrscheinlich unsere Industrie zugrunde gerichtet. Die Gesamtheit der Industriellen hat daher keinen Anlass, sich über die Belastungen dieser Gesetze zu beklagen.

 

Kritik der dreifachen Revolution (1919)

Zum Vorwurf von politischen Gegnern Rathenaus, er sei der Urheber der Zwangswirtschaft:

Es ist eine demagogische Finte, um den Begriff der Gemeinwirtschaft zu entkräften, sie mit der Zwangswirtschaft des Krieges, womöglich mit der Lebensmittelwirtschaft in Verbindung zu bringen, um Verwechselungen hervorzurufen. Gemeinwirtschaft beruht auf organischer Regelung der Erzeugung, sie ist Selbstverwaltung, nicht Zwang; die Zwangswirtschaft des Krieges, vor allem die verfehlte Ernährungswirtschaft, ist nicht Gemeinwirtschaft, sondern Notstandseinrichtung eines belagerten Landes.

 

Die neue Gesellschaft (1919)

Das Ziel ist nicht irgendeine Einkommensverteilung oder Güterverrechnung. Das Ziel ist auch nicht Gleichheit, Arbeitsminderung oder Genusserhöhung, sondern Abschaffung des proletarischen Verhältnisses. Abschaffung der lebenslänglichen Erbfron, der anonymen Erbuntertänigkeit des einen der beiden gleichnamigen Völker, der Abschaffung der erblichen Zweischichtigkeit des Volkes, das Abtun der verruchten Bruderknechtschaft, desokzidentalen Missbrauchs, der die Grundlage unserer Zivilisation ist, wie Sklaverei die Grundlage der antiken Zivilisation war, und der jede unserer Handlungen, Schöpfungen und Freuden zum Unrecht macht.

Das politische Ziel: Aufhebung des demokratischen Verhältnisses, lässt sich … in großer Annäherung erreichen durch geeignete Vermögens- und Erziehungspolitik, vor allem durch Beschränkung der Erblichkeit. Einer Sozialisierung im engeren Sinne bedarf es nicht. Doch wird weitreichende Sozialisierungspolitik – nicht mechanische Verstaatlichung der Produktionsmittel ist hier gemeint, sondern radikaler Ausgleich der Wirtschaft und Gesellschaft – deshalb nötig und dringlich, weil sie Verantwortungen weckt und schult und weil sie die Zeit- und Wegbestimmung aus den zögernden Händen der herrschenden Klassen in die gerechteren Hände der Gesamtheit legt, die heute vor lauter Demokratie nichts zu sagen hat. Denn Demokratie ist Volksherrschaft nur in den Händen eines politischen Volkes …

 

Ernst Schulin: Walther Rathenau
Repräsentant, Kritiker und Opfer seiner Zeit (1979)

Industriell hatte er ausgereifte Pläne, fast mehr auf die gesamte Elektrizitätsindustrie gerichtet als auf die AEG. 1910 gelang ihm durch Übernahme der Aktienmehrheit die Verbindung der AEG mit Felten & Guilleaume-Lahmeyer, dem drittgrößten elektrotechnischen Konzern. Als dann 1912 Siemens die Bergmann-Elektrizitätswerke unter seine Kontrolle gebracht hatte, damit nicht auch sie noch „der AEG in den Rachen“ fielen, beherrschten Siemens und AEG als Duopol praktisch die gesamte deutsche Elektrizitätsindustrie und begannen sich mit der Gründung eines sogenannten „Elektrobundes“ zu beschäftigen. Rathenau, der vor allem hier bewies, dass er einer der führenden Männer der Konzentrationsphase der deutschen Industrie war, suchte nun auch nach einer zentralen gemischtwirtschaftlichen Organisationsform zur bestmöglichen Rationalisierung der Elektrizitätserzeugung und -verteilung.

… Er erhielt Privatbriefe wie den eines Chemikers Heinrich Zellner, der ihn aufforderte, ein Beispiel zu geben und sich seines Besitzes zu entledigen: „Dann predigen Sie uns, und wir werden Ihnen folgen!“ Er wurde öffentlich verhöhnt wie in dem Vorspann zur Wiedergabe seiner Rede vor der Generalversammlung der AEG, in dem es in der Zeitung „Die Republik“ am 19.12.1918 hieß: „Jesus im Frack, wie ihn ein witziger Kollege von der Berliner Handelsgesellschaft getauft hat, Inhaber von 39 bis 43 Aufsichtsratstellen und Philosoph von Kommenden Dingen, Schlossbesitzer und Mehrheitssozialist, erster Aufrufer – nach Ludendorffs Zusammenbruch – für die nationale Verteidigung und beinahe Mitglied der revolutionären Sozialisierungskommission, Großkapitalist und Verehrer romantischer Poesie, kurz – der moderne Franziskus v. Assisi, das paradoxeste aller paradoxen Lebewesen des alten Deutschlands …“

… eine aufreibende kriegswichtige Tätigkeit: die Organisation der Kriegsrohstoffversorgung. Diese Leistung war so fundamental wichtig, dass man ernsthaft vermuten kann, der Kriegsverlauf wäre ohne sie anders geworden: Deutschland hätte nach etwa einem halben Jahr eine schwere Materialkrise gehabt, die möglicherweise eine frühere Kriegsentscheidung – ohne amerikanische Mitwirkung, ohne russische Revolution – herbeigeführt hätte.

Die Abhängigkeit Deutschlands von ausländischen Rohstoffen, besonders von Edel- und Nichteisenmetallen, von Salpeter, Spinnstoffen und Baumwolle, war mit der wachsenden Industrie enorm gestiegen. Das wusste man schon vor 1914. Auch Rathenau, der es von den Bedürfnissen der AEG her kannte, hatte 1913 auf das Problem hingewiesen. Bei aller militärischen Aufrüstung hatte es aber auf diesem Gebiet überhaupt keine Vorsorge für den Kriegsfall gegeben. Am 4. August trat England in den Krieg ein. Rathenau hat später berichtet, wie betroffen er bei dieser Nachricht war: „Ich sah den Kontinent blockiert und erkannte, dass die Rohstoff- und Ernährungsfrage unser Schicksal bestimmte.“

 

Nach dem Rückzug aus der Kriegsrohstoffabteilung:

Persönliche Angriffe kamen hinzu. Ein Jude im Kriegsministerium war für viele Militärs ein Stein des Anstoßes, während die Industriellen ihrem Kollegen natürlich nicht seine preußische Selbstlosigkeit abnahmen, sondern Bevorzugung der AEG unterstellten.

… Die Angriffe kamen von antisemitischer Seite, von wo es als eine „Schande“ bezeichnet wurde, wenn es wirklich wahr wäre, dass ein „Semit“ durch seine Rohstofforganisation Deutschland gerettet hätte.

Der Journalist und Rathenaus Parteifreund (DDP) Hellmut von Gerlach:

„Zum Schluss unserer rein sachlichen Unterredung (über die Morddrohungen gegen Rathenau) lehnte sich Rathenau weit zurück und sagte mit veränderter Stimme, indem seine sonst so harten Augen einen weichen Schimmer bekamen: ‚Sagen Sie, warum hassen mich diese Menschen eigentlich so furchtbar?’ Ich konnte nur erwidern: ‚Ausschließlich, weil Sie Jude sind und mit Erfolg für Deutschland Außenpolitik treiben. Sie sind die lebendige Widerlegung der antisemitischen Theorie von der Schädlichkeit des Judentums für Deutschland. Darum sollen Sie getötet werden.“

Am Morgen des 24. Juni 1922 wurde Walter Rathenau auf dem Weg von seiner Villa in Berlin-Grunewald ins Außenministerium in seinem offenen Cabriolet von zwei Jugendlichen der rechtsradikalen Organisation Consul erschossen.

Walther Rathenau war eine äußerst komplexe Persönlichkeit. Seine Vita weist Brüche auf. Zerrissen zwischen seinen gegensätzlichen Begabungen, zwischen Judentum, Christentum und seinem persönlichen Gottesbild, zwischen Konzernlenker und Sozialromantik, auf Basis sehr realistischer Einsichten und echter Empathie, auch noch von ganzem Herzen Preuße (Wehrpflicht im Garde-Kürassier-Regiment – wäre so gern Offizier geworden, aber er wollte sich nicht taufen lassen) und Kriegsverlängerer im Umfeld Ludendorffs. Aber dann sehr fähiger Friedens-Außenminister. Das war kein Bruch: Rathenau hat die Realität der Niederlage des Deutschen Reiches akzeptiert, und er hat gelernt.

Sein Schicksal ist ein typischer Fall der Tragik des deutschen Judentums: Die Juden mussten viel leisten, mussten auffallen, um in der deutschen Gesellschaft akzeptiert zu werden. Doch je mehr sie leisteten und je wertvoller ihr Beitrag zum Gemeinwohl, desto größer Missgunst und Ablehnung. Die deutschen Juden haben ihre Gleichwertigkeit nie erlangt. Es war nicht ihre Schuld.

 

Eine gute Zusammenfassung von Walther Rathenaus volkswirtschaftlichem Modell:

„Die Grundannahme in der Theorie des von Rathenau aufgestellten planwirtschaftlichen Modells besagt, dass der Markt und die zentrale staatliche Planung sich nicht unbedingt ausschließen müssen. Planwirtschaft lasse sich, daran glaubte nicht nur Rathenau, als notwendige Ergänzung zum Marktmechanismus begreifen. Sie könne dabei helfen, sowohl soziale Schieflagen zu vermeiden, als auch der Rohstoff- und Ressourcenverschwendung entgegenzutreten. Und sie sei ein Mittel gegen überzogene Profite.“

https://de.wikipedia.org/wiki/Walther_Rathenau

Zusammengestellt und kommentiert von Bernd Schüngel