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Dezember | 2021

In der Mitte vom Auge bodenlose Grausamkeit und eisige Bösartigkeit


Zu James Baldwin: Beale Street Blues

 

„Bestimmt hatte ich ihn vor dem Nachmittag mal gesehen, aber bis dahin war er bloß irgendein Cop gewesen. Nach dem Nachmittag hatte er rote Haare und blaue Augen. Er war in den Dreißigern. Er hatte einen Gang wie John Wayne, breitbeinig unterwegs, um das Universum aufzuräumen, und den ganzen Scheiß glaubte er auch noch: ein boshafter, dummer, kindischer Dreckskerl. Wie seine Helden hatte er einen hohlen Kopf, einen fetten Bauch und einen breiten Arsch, und seine Augen waren so leer wie die von George Washington. Aber was die Leere von diesen Augen angeht, hab ich so langsam was kapiert, und was ich kapiert hab, hat mich zu Tode erschreckt. Wenn man fest in dieses ungerührte Blau guckt, in diese Nadelspitze in der Mitte vom Auge, entdeckt man bodenlose Grausamkeit, eine kalte, eisige Bösartigkeit. In diesem Auge existierst du nicht, wenn du Glück hast. Wenn dieses Auge da oben gezwungen ist, dich zu bemerken, wenn du in dem unsagbar frostigen Winter existierst, der hinter dem Auge lebt, bist du gezeichnet, gezeichnet, gezeichnet wie ein Mann in einem schwarzen Mantel, der auf der Flucht durch den Schnee kriecht. Das Auge ärgert sich über deine Anwesenheit in der Landschaft, die ihm den Blick verstellt. Bald ist der Mantel still, färbt sich rot vor Blut, und der Schnee wird rot, und das Auge ärgert sich auch darüber, blinzelt einmal, dass noch mehr Schnee fällt und alles zudeckt.“ (S. 184)

Mir fiel sofort George Floyd ein, und die anderen jüngst von Cops ermordeten Schwarzen. Mir fiel auch dieser Fraktionsvorsitzende der Republikaner ein, dessen Gesicht mich jedes Mal erschrickt. Mitch McConnell heißt er. Mir fielen die Augen von Harry S. Truman ein, der mit einem Befehl auf einen Schlag in Hiroshima 70.000 Kinder, Frauen, Männer ermorden ließ. Mir fiel das Verbrennen und das Vergiften von Kindern mit Napalm und Agent Orange in Vietnam ein. Mir fiel so Vieles ein, Ich griff zu Noam Chomskys „Wer beherrscht die Welt?“. Da ist einleitend alles schön sauber aufgezählt, was einem einfallen könnte, wenn man bis ins hohe Alter US-amerikanische Politik miterleben musste.

 

Abu Ghraib
US-Soldat Charles Graner posiert neben dem bei einem Verhör getöteten Gefangenen Manadel al Jamadi.
Die Augen!

 

Baldwins Buch ist großartig. Baldwin ergreift Partei, indem er das Leben von Schwarzen in Harlem schildert. Ohne Pathos, ohne Kitsch. Manches für uns Unglaubliche wird gar nicht direkt genannt, es ergibt sich einfach aus der Story. Zum Beispiel, dass eine schwangere Frau und ihre Lieben einen Schwangerschaftsurlaub nicht einmal denken können. Dass es eine ärztliche Betreuung während der Schwangerschaft einfach nicht gibt.

„Beale Street Blues“ hat, wie der Name andeutet, auch einen Soundtrack. Ray Charles, Janis Joplin, Marvin Gaye’s „What’s going on“, B.B. King und andere, die ich nicht kenne.

Baldwin erinnert uns daran, wiederum ohne das Thema direkt anzusprechen, dass im „Krieg gegen die Drogen“ es jedem Cop auf Streife erlaubt ist, bei Verdacht auf Handel mit Drogen, auch mit Marihuana, klar, Aufbewahrung oder Konsum von Drogen die Verdächtigen zu „kontrollieren“ und bei „Widerstand“ zu arretieren. Als Arretierte befinden sie sich in einem vollkommen rechtsfreien Raum, das wissen wir. Schwarze Menschen, die z.B. abends auf ihren Haustreppen sitzen und schwatzen, mit oder ohne Dosenbier, müssen ständig mit solchen „Kontrollen“ rechnen, müssen vor jedem vorbei schleichenden Streifenwagen Angst haben, Tag für Tag, Abend für Abend, Nacht für Nacht – ein Leben lang.

„Nun beginnen (auf dem Video) die 9 Minuten und 29 Sekunden, in denen Floyd 27-mal sagen wird, dass er nicht atmen könne.“
„Niemand weiß in diesem Moment, dass Minuten vor der Urteilsverkündung ein Polizist in Columbia, Ohio, die 16-jährige Ma’Khia Bryant erschossen hat, ein schwarzes Mädchen mit einem Messer.“
Aus dem Bericht des Spiegel vom 24.4.2021 über den Prozess gegen den Mörder von George Floyd.

Bernd Schüngel, Mai 2021

James Baldwin: Beale Street Blues, München 2018/2021
Noam Chomsky: Wer beherrscht die Welt?, Berlin 2017