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Juli | 2017

Huizinga, Mollat, Engels, Zöllner


Klassengesellschaft Mittelalter

 

Johan Huizinga: Herbst des Mittelalters
Stuttgart 1975, S. 78 ff.

Verse auf Alt-Französisch, von Huizinga übersetzt

Neben dem Spott über die Bauern, voll Hass und Verachtung, hören wir im Mittelalter entgegengesetzte Äußerungen von Mitleid mit dem armen Volk, das es so schlecht hat.

So müssen die Unschuldigen vor Hunger umkommen,
Weil die großen Wölfe sich jeden Tag den Bauch vollschlagen,
Als welche zu Hunderten und zu Tausenden
Die falschen Schätze anhäufen. Das Korn und das Getreide,
Das Blut und die Knochen, womit die armen Leute
Ihr Feld pflügen – weshalb ihr Geist
Nach Rache schreit zu Gott, und weh! Zur Herrschaft.

Es sind immer die selben Klagelieder: das arme Volk, durch Kriege heimgesucht, von den Beamten ausgesogen, lebt in Mangel und Elend; jedweder zehrt vom Bauern. Sie leiden geduldig: „Der Fürst weiß nichts davon“, und wenn sie manchmal murren und die Obrigkeit schmähen, „arme Schafe, armes dummes Volk“, so wird sie der Herr mit einem Wort wieder zur Ruhe und zur Vernunft bringen. In Frankreich drängt sich unter dem Eindruck der jämmerlichen Verwüstung und Unsicherheit, denen der hundertjährige Krieg allmählich das ganze Land auslieferte, ein Zug der Klage besonders in den Vordergrund: der Bauer geplündert, gebrandschatzt und misshandelt von den eigenen und feindlichen Kriegsbanden, seiner Pflugtiere beraubt, von Haus und Hof verjagt. In dieser Form nimmt die Klage kein Ende. Man hört sie von den großen reformgesinnten Theologen um 1400: von Nikolaus von Clémanges in seinem Libre de lapsu et reparatione justitiae, von Gerson in seiner mutigen und ergreifenden politischen Predigt, die er vor den Regenten und vor dem Hof über das Thema Vivat rex am 7. November 1405 im Palast der Königin zu Paris hielt. „Der Arme hat gewöhnlich kein Brot zu essen außer vielleicht ein wenig Roggen oder Gerste; sein armes Weib liegt im Wochenbett, und sie haben vier bis sechs Kinder am Herd, oder im Backofen, der vielleicht warm ist; diese fordern Brot, schreien in der Wut des Hungers. Die arme Mutter aber hat nichts, das sie ihnen zwischen die Zähne stopfen könnte, als ein wenig Brot mit Salz. Wohl sollte solches Elend genügen: – da kommen diese Lumpenkerle, die alles aufladen … alles wird gepackt und weggeschnappt – und sucht den, der zahlt!“ Jean Jouvencel, der Bischof von Beauvais, hält 1433 zu Blois und 1439 zu Orléans den Ständen in bitteren Klagen das Elend des Volkes vor. Vereint mit den Klagen der anderen Stände über ihre Mühsale findet man das Thema des Volkselends in der Form eines Streitgesprächs wieder in Alain Chartiers Quadriloge invectif und in Robert Gaguins davon inspirierten Debat du laboureur, du prestre et du gendarme. Die Chronisten können nicht umhin, immer wieder darauf zurück zu kommen; ihr Stoff brachte es mit sich. Molinet dichtet eine Resource du petit peuple, der ernsthafte Meschinot wiederholt die Warnungen vor der Verwahrlosung des Volkes wieder und wieder:

O Gott, schau an des gemeinen Volkes Dürftigkeit,
Schaff Abhilf’ in höchster Schnelligkeit;
Ach! Es zittert vor Hunger, Kälte, Furcht und Elend.
Hat es gesündigt oder eine Nachlässigkeit
Gegen Dich begangen, so erbittet es Nachsichtigkeit.
Ist es nicht ein Jammer um das Gut, das man ihm fortnimmt?
Es hat kein Getreide mehr, um es zur Mühle zu tragen,
Man zieht ihm Tücher aus Wolle oder Linnen fort;
Wasser, sonst nichts, bleibt ihm zum Trinken.

In einem Beschwerdeheft, das dem König bei Gelegenheit der Ständeversammlung zu Tours 1484 überreicht wurde, nimmt die Klage geradezu den Charakter einer politischen Abhandlung an. Doch bleibt es bei einem vollkommen stereotypen und negativen Mitleid, – keine Spur von einem Programm. Noch findet sich nichts von einer wohl überlegten sozialen Reformidee, und so wird dasselbe Thema weiter gesungen von La Bruyère, von Fénelon, bis tief in das achtzehnte Jahrhundert hinein, denn noch die Klagen des älteren Mirabeau, „l’ami des hommes“, lauten wenig anders, wenn auch in ihnen schon der Ton kommenden Widerstandes anklingt.

Den Gleichheitsgedanken hatten schon die Kirchenväter aus Cicero und Seneca übernommen. Gregor der Große hatte dem kommenden Mittelalter bereits das ‚Omnes namque homines natura aequales sumus’ mitgegeben. Es war in mancherlei Klang und Betonung wiederholt worden, ohne jede Absicht, die Ungleichheit auch wirklich zu mindern. Denn für den mittelalterlichen Menschen lag der Kernpunkt des Gedankens in der baldigen Gleichheit im Tode, nicht in einer hoffnungslos fernen Gleichheit im Leben. Bei Eustache Deschamps finden wir ihn in deutlicher Verbindung mit der Totentanzvorstellung, in der das späte Mittelalter einen Trost für das Unrecht der Welt finden sollte. …

 

Michel Mollat: Die Armen im Mittelalter
Frankfurt 1987

Darstellung der Armut
S. 110
Hungersnot … Die durch das Bevölkerungswachstum zusätzlich verschlimmerte Not zwang besonders junge Leute ohne Arbeit, ihre Heimat zu verlassen. Franziskus, der zunächst von einer Teilnahme am Kreuzzug geträumt hatte, muss in Italien vom unseligen Los der in Zara ausgesetzten Armen erfahren haben, die die genuesischen Schiffseigner 1202 in Sardinien ihrem Schicksal überließen, anstatt sie in den Orient zu bringen, waren nur wenig jünger als er. Zu dieser Zeit vermählte sich Franziskus mit ‚Frau Armut’, sammelte er seine erste Jüngerschar. Damals besaßen nach den Worten eines englischen Klerikers die Menschen auf dem Lande ‚nichts als einen Bauch, aber darüber hinaus nichts um ihn zu füllen; landlose Bauern verfielen aufgrund ihrer Abhängigkeit in eine Art zweite Leibeigenschaft. Zweimal versuchte Dominikus, in solcher Abhängigkeit zu leben, zuerst in Kastilien, dann im Languedoc. Für ihn war danach ‚der Arme im Grunde ein Mensch, dessen geringer Besitz ihn auf Gnade und Ungnade allen in der Gesellschaft ausliefert.’

S. 122
Dass sich neben Privatleuten auch Gruppen sowie die kirchliche und weltliche Obrigkeit immer stärker an der Armenfürsorge beteiligten, belegt, dass in einem sozialen und geistigen Umfeld, in welchem das Geld einen wichtigen Platz einnahm, die Versorgung der Notleidenden zum drängenden Problem wurde.

S. 144 f.
… sorgten wenig später konjunkturell bedingte Hungersnöte für weitverbreitete Unruhe. 1302 bereits herrschte auf der iberischen Halbinsel eine Hungersnot, wie sie Gesamteuropa erst 1315–1317 erleben sollte. Nach der Chronik Ferdinand IV. von Kastilien ‚starben die Menschen auf den Plätzen und Straßen; die Sterblichkeit war so hoch, dass ein Viertel der Bevölkerung starb, die Hungersnot so groß, dass man Brot aus Löwenzahn aß; nie zuvor sah die Menschheit eine so große und schreckli-che Sterblichkeit.’ Was hätte der Chronist erst gesagt, wenn er fünf Jahrzehnte später die Große Pest erlebt hätte! 1315–1317 wurde das gesamte atlantische Europa von einer Reihe von Witterungskatastrophen, Überschwemmungen, Preisanstieg und Spekulation betroffen. Im Winter 1315/16 mussten die Engländer Getreide aus Frankreich einführen, und im darauffolgenden Sommer gab es in Provins (Ile de France) Arbeiterunruhen‚ wegen der allgemeinen Hungersnot und der Teuerung des Brotes. In Flandern wurde aus der Notlage eine Katastrophe, weil Getreide in benachbarte, noch schwerer betroffenen Regionen exportiert wurde; es war ein Preisanstieg um das Zwanzigfache zu verzeichnen. Hungernde Menschen ‚ließen sich in den Straßen sterben’, die städtischen Rechnungsbücher verzeichnen hohe Ausgaben für das Begräbnis von Armen; besonders stark betroffen waren die Lohnarbeiter des Tuchgewerbes in Ypern.

Im Juli 1924 gab es so viele Arme, dass der Graf den Genter Klöstern befahl, unverzüglich das gesamte in den Zehntscheunen gespeicherte Getreide auszuteilen. Den Effekt dieser weisen Anordnung verdarb eine zu diesem Zeitpunkt unangebrachte Steuererhöhung. Ein Teil der Aufständischen der Erhebung von Seeflandern, von Brügge bis Ypern, die bis 1328 anhielt, waren Arbeiter aus den Städten und Bauernknechte vom Lande, die nichts zu verlieren und alles zu gewinnen hatten.

S. 146 f.
Nach einem ‚Jahrzehnt von Unglücksfällen’ brach 1347 über ganz Italien eine Kata-strophe herein. Alles wirkte zusammen: Bürgerkrieg, Hungersnot, Epidemien, Wirtschaftsrezession und Inflation. … In Orvieto wurde mit dem Getreide spekuliert, währen die Armen hungerten. In Bologna flohen die ausgehungerten Bauern in die Stadt. In Siena rief die Menge auf den Straßen: ‚Tod den Hunden, die uns aushungern!’ …, nahm die Hungersnot in Florenz nach dem Bericht Villanis solche Ausmaße an, dass 6000 Menschen Hungers starben und dass die Stadtverwaltung drei bis vier Fünftel der Gesamtbevölkerung von 80.000 bis 90.000 Menschen mit Lebensmitteln versor-gen musste. Das Los der Allerärmsten kann man sich leicht ausmahlen. … Soweit die Situation vor dem Ausbruch der Großen Pest.

Bruderschaften wie San Paolo oder Or San Michele in Florenz entfalteten dabei ein gewisses Geschick, obwohl man damals die strukturellen Ursachen der Armut nicht zu erkennen vermochte. Sie sahen den Unterschied zwischen der absoluten Mittellosigkeit der Berufsbettler und den dürftigen Lebensumständen derjenigen, die mit sehr geringen Mitteln auskommen mussten; sie scheinen das Phänomen der ‚fleißigen Armut’ erkannt zu haben, das Problem der Armen, deren ganze Arbeit und Mühen nicht ausreichten, ihren Lebensunterhalt, Unabhängigkeit und Glück zu sichern. Diese Menschen hatten einen Beruf und übten ihn auch aus, einige verfügten sogar über bescheidenes Vermögen, aber bei ihren geringen Einkünften und ihrer Abhängigkeit von einem Arbeitgeber barg jeder persönlich oder konjunkturell bedingte Unglücksfall die Gefahr, in die Armut abzusinken. Dies gilt nicht nur für Florenz, überall, in Stadt und Land, brachte die Rezession neue Formen der Armut zutage.

S. 222 f.
In seiner Untersuchung über Göttingen hat W. Abel festgestellt, dass zwischen 1330 und 1360 74 % der vom Lande stammenden Zuwanderer keinerlei Berufsausbildung besaßen. In Paris erklärt das Überangebot an ungelernten Arbeitsplätzen im 14. Und 15. Jahrhundert die recht unterschiedliche Entlohnung. Nach der bereits bei der Untersuchung über Florenz angewandten Methode analysierte G. Pierret die wirtschaftliche Lage der Arbeiterschaft in Lille anhand der Rechnungsbücher der Stadt und der Hospitäler: Im 14. Jahrhundert lebten 80 % der Tagelöhner in ärmlichen Verhältnissen; besonders betroffen waren Familien mit vier und mehr Personen. Die Löhne sanken manchmal unter die lebensnotwenige ‚Kalorienschwelle’ (100 statt 2500 Kalorien). Aber auch die Hälfte der spezialisierten Arbeiter lebte in Armut. Im 15. Jahrhundert führte der Anstieg der Nominallöhne zu einer wesentlichen Verbesserung: Unverheiratete Arbeiter lebten nicht mehr in Armut, von den Tagelöhnern waren es nur noch 25 % der Familienväter, insgesamt weniger als 5 % aller Arbeiter. Zur fleißigen Armut gehörten damit in Lille Verheiratete, die eine Familie zu versorgen hatten, die also im Schnitt zwischen 25 und 35 Jahre alt waren, und zwar vorwiegend Leute ohne Berufsausbildung. Es war dies eine diskrete, ja geheim gehaltene Armut, die aus chronischer Mangelernährung, schlechten Wohnverhältnissen und mangelhafter Kleidung bestand, für die es keine Hoffnung und keinen Trost gab, der meist nicht einmal jene Unterstützung zuteil wurde, wie man sie den spektakulären Formen der Armut, den Bettlern, Vagabunden und anderen Randgruppen, gewährte.

 

Ursachen der Armut
S. 65 f.

1. Bodenknappheit

… das Ungleichgewicht zwischen dem verfügbaren Land und dem Bevölkerungswachstum. Sicher regten Hungersnöte zur Rodung an, was einige Arme in die Lage versetzte, sich selbst aus der Not zu helfen. Aber manche Rodungen schlugen fehl, zahlreiche Bauern fanden kein Rodungsland oder waren nicht bereit, in die Ebenen Deutschlands oder die Täler Aragons auszuwandern. Und die Gründung neuer klösterlicher Domänen wirkte sich auch nicht immer positiv aus; oft implizierte sie die Abschaffung traditioneller Nutzungsrechte und die Verdrängung der dort ansässigen Bauern. So entzogen z.B. 1159 die Zisterzienser von Maulbronn den Bauern die Felder, vertrieben sie aber nicht aus ihren Häusern. Bekannt ist auch, welchen Widerstand Bauern der Gründung von Klöstern entgegen setzten, so z.B. in Montrieux in der Provence der Gründung einer Kartause; erst nach ersten Vertreibungen boten die Zisterzienser arbeitslosen Bauern Rodungsland an. Außerdem zwang die außerordentlich starke Parzellierung der Hofstellen durch Erbteilung viele Bauern, Lohnarbeit auf anderen Höfen oder Gütern anzunehmen.

2. Fehlen von Produktionsmitteln

De facto war die Größe des Ackerlandes jedoch nicht so entscheidend wie der Besitz von Produktionsmitteln, von Vieh und Pflug. … Die Zeit lag nicht mehr fern, in der eine Minderheit von Bauern sich von der Masse der Landarbeiter abheben sollte, die außer ihrer Hände Kraft und ihrer Arbeitsbereitschaft keinerlei Werkzeug besaßen.

3. Verschuldung

S. 154 f.
Von allen Aspekten ländlicher Armut ist die Verschuldung seit jeher und überall der bedrohlichste. … Auch die Plage des Wuchers griff immer weiter um sich. Am Ende des 13. Und zu Beginn des 14. Jahrhunderts zog es Juden und Lombarden in die Landgebiete. Die zu 30, 40 oder mehr Prozent ausgegebenen Kredite wurden auf kurze Laufzeit vergeben und dienten zum Ankauf von Saatgetreide, Vieh oder Konsumgütern; sie mussten oft in Naturalien und innerhalb eines Jahres zurück gezahlt werden, z.B. nach der Ernte, wenn der Kredit im Herbst vergeben worden war, zu dem Zeitpunkt, an dem auch die grundherrlichen Abgaben fällig waren.

S. 65
Die meisten Bauern, die eine Familie zu ernähren und dem Grundherren fixe Abgaben zu leisten hatten, mussten – meist kurzfristige – Kredite zur Sicherung des Lebens-unterhalts aufnehmen. … Guibert von Nogent wetterte bereits in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts über die ungeheuerlichen Gewinnspannen der Wucherer, die die Armen bis aufs Mark ruinierten. Und keineswegs zufällig verbot Papst Alexander III. auf dem Laterankonzil 1179 die Kreditvergabe gegen Nutzungspfand zu einer Zeit, da dies in Westeuropa bereits weitgehend üblich war. Da diese Art der Pfandgabe die Nutzung des Gutes ausschloss, ohne dass die Erträge auf die Schuld angerechnet wurden, verflog die Hoffnung auf Rückerstattung zur bloßen Illusion. Die katastrophalen Folgen der Nutzungsverpfändung von bäuerlichem Besitz sind spätestens am Ende des 12. Jahrhunderts deutlich fassbar in der Normandie, im Gebiet um Chartres, in der Pikardie und in Mittelitalien.

S. 155
Erste Hälfte 14. Jahrhundert: Von der Wechselstube des Wucherers führte der Weg oft direkt in den Gerichtssaal, wie aus den Justizakten hervor geht: Auf die Kreditnahme folgte Zahlungsverzug, Zahlungseinstellung, Einzug des Pfandes, Flucht, Vagabundenleben, Verbrechen (Raub, Diebstahl, Salzschmuggel).

S. 216 f.
Von krasser Armut zeugen auch Inventare aus der Gegend um Toulouse, die anlässlich von Todesfällen erstellt wurden: 1369 vermachte ein Schuhmacher seinem einzigen Sohn nur geringen Besitz, dafür aber 45 Pfund Schulden, kein einziges Kleidungsstück und – was noch erstaunlicher ist – kein einziges Werkzeug. 1390 hinterließ ein Bauer lediglich ein kleines Stück Land und ein paar Fässer. Manche lebten in bitterster Armut wie jener Mann aus Gyé bei Bar-sur-Seine, der bei seinem Tod 1396 nur ‚Frau und Kinder in tiefster Armut’ hinterließ, ‚die ihr Brot am Backofen und an der Mühle erbettelten’; er hatte Schulden gemacht und dann Selbstmord begangen. ‚Die oben genannte Frau tötete sich am Grab ihres Mannes.’ In dieser Gegend, in der arme Bauern im 15. Jahrhundert 5–10 % der Bevölkerung ausmachten, besaßen die Allerärmsten nur einen halben Morgen Rebfläche.

S. 66 f.
Aufgabe der Höfe wegen Überschuldung und Zwang zu Betteln. Der soziale Abstieg führte ins Randgruppendasein. Nach dem Bruch lebte man ohne Bindungen und am Rande der Kriminalität. Häufig führte der Zwang zum Überleben zum Diebstahl. Auch dies beobachteten bereits die Chronisten. Aus Nordfrankreich wird zu 1197 berichtet, dass ‚viele, die in eine solche ausweglose Notlage gerieten, eine Lebensweise im Widerspruch zum Herkommen zu führen begannen, Räuber wurden und am Galgen endeten.’ Da die mittelalterliche Gesellschaft die Verletzung der Normen nicht duldete, gestand die Rechtsprechung auch den Angehörigen von Randgruppen keine mildernden Umstände zu. Petrus von Blois erwähnt, dass Arme verurteilt wurden, weil sie gestohlen oder gewildert hatten, um ihre Familie zu ernähren. Auch während der Hungersnot 1196–1198 blieb der Rechtsprechung unnachgiebig, in England z.B. blieb das Forstgesetz unverändert. Und was der Archidiakon von Bath, Petrus von Blois, feststellte, wird auch für die Ile de France und die Champagne von seinem Amtsbruder Petrus Cantor bezeugt. Strafen wie Tod am Galgen und Verstümmelungen waren die Regel.

4. Die Steuern und Abgaben

S. 196
Hauptursache der Spannungen in den deutschen Städten waren die drückende Besteuerung und die Beherrschung der Städte und Zünfte durch eine kleine Schicht von Patrizierfamilien. Die bereits seit 1374 schwelenden Unruhen hielten in Braunschweig bis 1380, in Lübeck, wo es zu einer regelrechten Kraftprobe zwischen Zünften und Patriziern kam, bis 1385 an.

s. oben, Zitat aus S. 145 und passim

 

Friedrich Engels: Der deutsche Bauernkrieg, MEW Bd. 7
S. 332 ff.
Die Steuern wurden immer drückender. Die Städte waren meist dagegen geschützt durch ihre Privilegien; die ganze Wucht der Steuerlast fiel auf die Bauern, sowohl auf die Dominialbauern der Fürsten selbst wie auch auf die Leibeigenen, Hörigen und Zinsbauern der lehnspflichtigen Ritter. Wo die direkte Besteuerung nicht ausreichte, trat die indirekte ein; die raffiniertesten Manöver der Finanzkunst wurden angewandt, um den löchrigen Fiskus zu füllen. … Der Handel mit städtischen und sonstigen Privilegien, die man nachher gewaltsam wieder zurücknahm, um sie abermals für teures Geld zu verkaufen, die Ausbeutung jedes Oppositionsversuchs zu Brandschatzungen und Plünderungen aller Art etc. etc. waren ebenfalls einträgliche und alltägliche Geldquellen für die Fürsten jener Zeit.
…..
Die Bauernschinderei durch den Adel wurde mit jedem Jahre weiter ausgebildet. Die Leibeigenen wurden bis auf den letzten Blutstropfen ausgesogen, die Hörigen mit neuen Abgaben und Leistungen unter allerlei Vorwänden und Namen belegt. Die Fronden, Zinsen, Gülten, Laudemien, Sterbfallabgaben, Schutzgelder usw. wurden allen alten Verträgen zum Trotz willkürlich erhöht. Die Justiz wurde verweigert und verschachert, und wo der Ritter dem Gelde des Bauern sonst nicht beikommen konnte, warf er ihn ohne weiteres in den Turm und zwang ihn, sich loszukaufen.

5. Missernten, Seuchen, Kriege und Bürgerkriege

Mollat, S. 60
Zwar folgten die Hungerjahre im 12. Jahrhundert nicht so rasch aufeinander wie im 11., aber sie trafen die Menschen kaum weniger hart. Jede Generation hatte mindestens einmal darunter zu leiden. Die Acta des Papstes Alexander III. berichten zu 1161/62 über Notsituationen in ganz Frankreich. In Aquitanien herrschte harte Hungersnot; im Anjou legten Frauen ihre Kinder vor die Klosterpforten, weil sie sie nicht mehr ernähren konnten; auch Nord- und Ostfrankreich blieben nicht verschont; in den Niederlanden und in Deutschland dauerte die Not bis 1166. 1160 und noch härter suchten Hungersnöte die iberische Halbinsel heim; die Annalen von Santa Cruce in Coimbra sprechen davon, dass alle Menschen hungern und dass der Tod Mensch und Tier hinweg raffe. Auch das Anjou war wiederum betroffen. Ein Kanoniker aus Auxerre berichtet, ganz Frankreich leide unter der Hungersnot, die Hilfstätigkeit der Klöster werde außerordentlich stark in Anspruch genommen.

Soziale Rechtfertigung und „Theologisierung“ der Armut

Mollat, S. 67 ff.
Gewiss traf die Armut die sozialen Schichten unterschiedlich hart und die Landbewohner am häufigsten, aber eine homogene Gruppe bildeten die Armen nicht. Demütigung und Abhängigkeit kennzeichnen das Los aller Armen, das man schon unter religiösen Aspekten betrachten muss, um ihm irgend einen Wert abzugewinnen. Denn paradoxerweise erhebt nun die Theologie die Armen gewissermaßen zu einem Stand innerhalb der Heilsordnung.
…..
An den Armen erging der Rat, sein Los geduldig zu ertragen, da dies Gottes Wille sei. Jedoch blieb die Ausübung der Caritas, die doch als Tugend und Christenpflicht galt, geprägt von Herablassung, ja von demütigender Verachtung; das Mitleid reifte nicht zum Mitleiden.
…..
Ganz offensichtlich spendeten Ritter zahlreiche und oft großzügige Almosen. Der Arme profitierte zwar davon, doch erscheint er dabei eher in der Rolle des Handelnden: denn eigentliches Objekt und in gewissem Sinne der Empfangene war der Wohltäter selbst, wobei ihm der Arme zu Diensten war. Wohltätigkeit übte man gern in aller Öffentlichkeit aus; die Geste des Gebens war mit Eitelkeit und Herablassung verbunden. Zweck des Almosens war das Wohl des Spenders; denn es tilgt seine Sünden und verhalf ihm zum ewigen Heil.
…..
Als Saladin 1187 Jerusalem eroberte und alle Christen als Kriegsgefangene behandelte, wurden wiederum die Armen geopfert; 15.000 Arme wurden als Sklaven in islamische Städte gebracht, weil die Christen nicht solidarisch genug waren, das Lösegeld für sie aufzubringen.
…..
Bevor man zum neutestamentlichen Verständnis der Armut als Zeichen der Auserwählung zurück fand, blieb sie behaftet mit dem alttestamentlichen Stigma der Sünde. Etienne de Fougères bezeichnete sie noch als Fluch, der z.B. die Kinder des unehrlichen Kaufmanns als Strafe für die Sünden ihrer Väter betreffe. … Am Ende des 11. Jahrhunderts waren es die Eremiten, die den Armen die Botschaft von der läuternden Kraft des Leidens brachten und ihre Armut mit ihnen teilten. Von nun an erkannte man die Berufung zum ewigen Heil in der Prüfung durch das Leid.
…..
S. 78 ff.
Verquickung der Volksbewegungen der Armen und von Armut Bedrohten gegen ihre Armut mit den häretischen Strömungen. Das hatte Folgen!

Ein Ventil

Mollat, S. 70
Die Kreuzzüge waren ursprünglich im wesentlichen eine Sache der Armen, im Grunde eine gemeinsame Pilgerfahrt der Armen wie der Reichen ohne Unterschied.
Walter Zöllner: Geschichte der Kreuzzüge, Berlin/DDR 1978

S. 62 f.
Die gegen alle Nichtchristen gerichtete Kreuzzugsstimmung verschärfte den religiösen Gegensatz zu den Juden weiter, was sich nicht nur jetzt (1. Kreuzzug, B.S.) zeigte, sondern auch im weiteren Verlauf der Kreuzzüge.
Die Grafen und Ritter aus dem Wirkungskreis Peters des Eremiten nutzten die Gelegenheit, sich schon vorher, ehe sie das erträumte syrische Paradies erreichten, zu bereichern. In den über mehrere Monate sich hinziehenden Raubzügen der Kreuzfahrer wurden die Juden in vielen Städten – Rouen, Reims, Verdun, Metz, Trier, Prag, Speyer, Worms, Mainz, Regensburg, Köln, Neuss, und Xanten – heimgesucht, d.h. entweder ausgeplündert oder auch umgebracht. Die ‚Hauptarbeit’ kam dabei auf das Konto des Grafen von Leiningen. Der aktionsunfähige deutsche König Heinrich IV. konnte gegen die Massaker nichts unternehmen; die örtlichen Schutzmächte waren zu schwach. Eine zwielichtige Rolle spielte bei den Massenmorden der Mainzer Erz-bischof, dem später vorgeworfen wurde, sich gleichfalls am jüdischen Eigentum be-reichert zu haben; er zwang Juden zur Taufe. Die Vorgänge in Mainz scheinen besonders furchtbar gewesen zu sein. Die Judenverfolgungen waren aber nur das Vorspiel zu den ‚Taten der Franken’ im Orient.

Zum Ausklang des Mittelalters das große Ventil: Amerika

Auch unter den Conquistadores dominierten die Armen, einschließlich verarmter Adeliger: Mord und Raub, die Gier hatte freien Lauf. Alles unter dem Kreuz, und mit dem Kreuz. Das zeigten sie den Einheimischen vor deren Ermordung. Beliebte Inszenierung: Zerfleischen der Indios einschließlich ihrer Kinder durch die Bluthunde der Spanier.

Literatur:
Jakob Wassermann: Das Gold von Caxamalca
Stefan Zweig: Flucht in die Unsterblichkeit, in: Sternstunden der Menschheit
DVD: También la lluvia (Und dann der Regen). Ein Film von Icíar Bollaín

Unruhen, Erhebungen, Aufstände

Ihrer sind im Mittelalter so viele, auch in den zitierten Werken festgehalten, dass ihre Aufzählung, Systematisierung und Würdigung hier zu aufwendig wäre. Die Unruhen wurden „natürlich“ vor allem von Bauern, mit und ohne Land, und von den Plebejern der Städte getragen. Aber es erhoben sich auch Patrizier gegen den Adel, und niede-rer gegen hohen Adel.

Die vielen Rebellionen sind meist gescheitert. Hin und wieder konnten Lohnerhöhungen durchgesetzt werden. Die bedeutendsten Erhebungen im späten MA waren die Hussitenkriege in Böhmen und die Remensas in Katalonien.

Zusammengestellt von Bernd Schüngel, Juli 2017

 

Zugabe 1:

Kurt Flasch: Warum ich kein Christ bin, München 2015

S. 148 f.
Christen nutzten in Antike und Mittelalter, aber insbesondere im 17. Und 18. Jahrhundert antik-philosophische Gotteslehren. Zwischen 1650 und 1750 wurde die philosophische Theologie der Stoa – vor allem mit ihrem Argument der zweckmäßigen Einrichtung des Universums – geradezu zur Mode. Man konnte argumentieren: Würde Gott nicht existieren, könnte er sich auch nicht offenbaren (in der Zweckmäßigkeit des Universums, B.S.). Wer seine Existenz philosophisch bewiesen hätte, könnte an die vorhandenen Religionen herantreten und untersuchen, ob in ihnen Gott spricht. Das war eine etwas gewundene apologetische Konstruktion; im tatsächlichen Leben ist wohl niemand auf diesem Weg zu seinem Christentum oder seinem Islam gekommen, zumal die Religionen, sobald sie die Macht hatten, heilige und unheilige Praktiken angewandt haben und noch anwenden, die Menschen schon an sich zu binden, bevor sie Argumente prüfen können.

… Selbst der feine Bultmann schrieb: „Die Macht, die den Menschen in die letzte Einsamkeit stößt, ist Gott.“ Gott ist demnach ‚Macht’, er ist ein Stoßen. Was er uns gibt, ist ‚letzte Einsamkeit’, als hätten wir davon nicht auch ohne ihn schon genug. Mich hat Adolf Hitler und hat sein Krieg in die letzte Einsamkeit gestoßen. Von Gott, dachte ich, sei etwas Besseres zu erwarten, zum Beispiel Frieden und gewaltfreie Gemeinsamkeit. … denn genau genommen charakterisiert ‚Macht’ den gewalttätigen Dämon des 20. Jahrhunderts, buchstäblich den Zeitgeist. Selbst bei Umfragen in Deutschland nach dem Gottesglauben kommt regelmäßig die Antwort: ‚Nein, an einen persönlichen Gott glaube ich nicht, wohl aber an eine ‚höhere Macht’. ‚Macht’, das ist das Gottesprädikat, das nach dem Tod Gottes geblieben ist. Rahner verschleiert das; er versenkt ‚Macht’ und die dem Menschen abgeforderte Gehorsamspflicht im ‚Geheimnis’.

S. 152 f.
 Zur „ersten Ursache“ des Aristoteles:
Aristoteles macht die tiefsinnige Bemerkung, das Glück der Gottheit wäre dahin, hätte sie die Einzelheiten des irdischen Lebens vor Augen. Christen, die diese Gottesdarstellung schwach finden, brauchen uns nur noch zu erklären, was aus der Seligkeit ihres Gottes wird, wenn er den Hunger der Kinder in Afrika sieht. Gottes Seligkeit hängt daran, dass er die unselige menschliche Geschichte nicht sieht. Dieser Autarkie-Gedanke ist eines großen Denkers würdig (Aristoteles, B.S.) …

S. 251 f.
Die Lehrer des lateinischen Westens … begründeten theoretisch, warum die ewige Qual in Gottes Absicht liege: Sie plauderten die spezifisch christliche Philosophie der Strafe aus. Ihr Zweck sei nicht die Besse-rung des Delinquenten, sondern die Leistung von Genugtuung. Ein Theologe wurde noch deutlicher und schrieb: Wer die Strafe nur als Erziehung versteht und nicht als Sühne und Genugtuung, glaubt überhaupt nicht an die Hölle. Er hatte recht. … Die Theologen hatten Mühe zu erklären, wieso der Gott der Liebe ewige Höllenqualen eingerichtet hat und auf ewig unterhält. Sie bemühten die unendlich beleidigte göttliche Majestät und hielten daran als einem Geheimnis fest, das umso unbegreiflicher wurde, je weniger Menschen nach Augustins Gnadenlehre dem ewigen Untergang entgingen. Ebenso bestanden sie auf dem materiellen Charakter des Höllenfeuers. Dabei konnten sie nie erklären, wie die reine Geistseele vom materiellen Feuer gequält werden könnte. …

Die Kirchen haben mit Höllenbildern über tausend Jahre die Menschen in Angst und Schrecken versetzt, und jetzt beruhigen sie uns, das die Bibel das nicht verlange.

Zusammengestellt von Bernd Schüngel, Juli 2017

 

Zugabe 2:

Religionen

Liebfrauenkirche (herrlicher Euphemismus, B.S.)

Das Gebiet der heutigen Stadt Ravensburg gehörte anfangs zum Bistum Konstanz und war dem Archidiakonat Allgäu Landkapitel Ravensburg unterstellt. Im ausgehenden 15. Jahrhundert kam es hier zu einer ersten großen Welle von Hexenverfolgungen in Europa. Mindestens 48 Frauen wurden als Hexen in der Stadt Ravensburg bei lebendigem Leib verbrannt. Es kam auch zu zwölf Freisprüchen, die möglicherweise mit Einsprüchen und Bürgschaften der jeweiligen Familien zusammenhingen. Die Prozesse führte zum Teil der päpstliche Inquisitor Heinrich Institoris, der Autor des bald weit verbreiteten Hexenhammers. Weitere Prozesse nach Anklagen der weltlichen Obrigkeit folgten in der weiteren Region und bis ins 17. Jahrhundert. Als päpstlichen Dank gab es die Verkaufsvollmacht für Ablässe für die Kirche in der Stadt.