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April | 2022

Geschrieben im Gefängnis Breslau 1918*:


Rosa Luxemburg: Zur russischen Revolution

 

Referat vor den Mitarbeitern der Volksuni am 19.6.2002
(Skizze, geringfügig ergänzt).

 

Lenins System, das in allen sozialistischen Staaten durchgesetzt wurde:

Entmündigung bzw. entmündigt Halten der Massen, aller Menschen. Auch der Akademiker, der Parteifunktionäre – ja, der Spitze: Selbstentmündigung.

Abtöten jeder Spur wahren menschlichen Lebens, also aufgeklärten, aktiven, selbstbestimmten Lebens in der ganzen Gesellschaft.

Herrschaft einer Clique. Totale Herrschaft, weil auch wirtschaftlich (Djilas: Die neue Klasse, S. 226, 101 **):
– politische Macht: keine politische Freiheit, d.h., keine Möglichkeit der kreativen, und damit auch kritischen Teilhabe an der Gestaltung der Gesellschaft.
– ideologische Macht: Macht über das gesamte Denken in der gesamten Gesellschaft.
– wirtschaftliche Macht: totaler Besitz der Produktionsmittel, der Wissenschaft, der Staats- und Parteiverwaltung, der Medien, der Kultur. Deshalb wirtschaftliche Abhängigkeit jedes einzelnen von der „Clique“.

Ideologie, „wissenschaftliche Weltanschauung“ genannt (Orwell!) zur Rechtfertigung von Macht und Privilegien.
Dies gilt/galt auch prinzipiell für die kommunistischen Parteien des Westens, vor allem dieses: Kritiker aus den eigenen Reihen werden härter unterdrückt als der politische Gegner (Djilas S. 96, 198).

Willkür: Mord gerade an Genossen: Sinowjew, Kamenew, Smirnow, Bucharin, Trotzki, Tuchaschewski, Preobraschenski, Radek, Rykow, Slansky und hunderte weitere.

Nicht die Spur von Gemeinwohlorientierung. „Clique“ orientiert sich ausschließlich an sich selbst, an der Erhaltung ihrer eigenen Macht, an ihrer Hegemonie. Aber auch die Angehörigen der „Clique“ sind keine freien Menschen: sie haben Angst. Sie überbieten sich in Lobhudeleien und im vorauseilenden Gehorsam gegenüber der jeweiligen „Nummer Eins“ und deren „Sicherheitsbeauftragten“ (Koestler ***).

Dauerhafte Missachtung der Autonomie des Menschen – weit über Stalin hinaus. Keine Aufarbeitung des Stalinismus, Vermeidung dieses Begriffs. Lexikon der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, Moskau 1968, Leipzig 1976: Trotzki, Bucharin, Tuchaschewski usw. nicht erwähnt – sie sollten aus dem historischen Gedächtnis gelöscht werden. „Bewältigung“ des Stalinismus 1968/1976: „Aktiv kämpfte (Stalin) für den Aufbau des Sozialismus, spielte eine große Rolle bei der ideologischen Zerschlagung der parteifeindlichen Strömungen, besonders des Trotzkismus und des rechten Opportunismus. Mit dem Namen S. sind Entstellungen im Leben der sowjetischen Gesellschaft verbunden, die die Partei als einen dem Marxismus-Leninismus fremden Personenkult qualifizierte“, S. 302. Ein Stichwort „Trotzkismus“ findet sich im Lexikon nicht.


Die Folgen

Zerstörung der menschlichen Kreativität. Sie wäre aber die einzige wirkliche Produktivkraft im Sozialismus, die einzige Kraft, die in der Effizienz das Profitsystem ersetzen könnte.

Naturverwüstungen in den sozialistischen Ländern – als Draufgabe zur Verwüstung der Menschen, s. Chauvinismus, Antisemitismus, Fundamentalismus, Kriege, Gangstertum immense Bereicherung Einzelner („Oligarchen“) nach 1990.

Ende der Philosophie, da kein freies Publizieren, keine Debatten. Ende der Aufklärung, Ende der Emanzipation. Djilas, S. 102: „Die Lüge ist ihre Hauptwaffe. Ihr geistiges Erbe ist in ewige Nacht gesunken.“ Rückführung von Mensch und Gesellschaft in mittelalterliche Unmündigkeit. Mit „geistiges Erbe“ meint Djilas Aufklärung, dialektischen Materialismus, Arbeiterbewegung.

Ende der „Clique“: eine historische Gesetzmäßigkeit (es konnte nicht anders kommen).

Djilas (1957!): „Wenn die neue Klasse von der Bühne der Geschichte abtritt – das muss einmal geschehen -, dann wird weniger Trauer über ihren Abgang herrschen als über den jeder anderen Klasse zuvor. Indem sie alles unterdrückte, was ihrem Egoismus nicht förderlich war, hat sie sich selbst zur Niederlage und zu schmachvollem Untergang verurteilt“ (S. 102).

Zu viel Gehorsam, „Parteidisziplin“ genannt, zu viel falsche Loyalität, zu langes Warten auf die historische Chance – die dann mit Gorbatschow doch nicht gekommen ist, er kam zu spät. War die von Stalin nachhaltig geprägte Sowjetunion zu keinem Zeitpunkt mehr zu retten, wegen des moralischen Verfalls ihres Staates, ihrer Führung und ihrer Menschen?

Hinterlassenschaft: Menschen ohne Selbstbewusstsein, ohne Identität, ohne Lebensorientierung, ohne Geschichtserkenntnis, ohne Verständnis von Gesellschaft, insbesondere keine Ahnung vom Kapitalismus, also ohne „Boden unter den Füßen“ – eine leichte Beute für betrügerische Spekulanten aus dem Westen und politisch-ökonomische Usurpatoren aus den eigenen Reihen.

Beschäftigung mit Geschichte ist Politik, ist politische und individuelle Emanzipation. Aber auch „Genuss an sich“, schenkt Freude an der Entdeckung der historischen Wahrheit und der eigenen Wurzeln. Beschäftigung mit der Geschichte der Revolution, ihrer Vorgeschichte, der revolutionären Bewegungen anderer Länder und zu anderen Zeiten war aber in der SU und den nach ihrem Muster geformten Ländern Osteuropas vollkommen unmöglich.

Die historisch schwerstwiegende Folge: Die Herrschaft der „Clique“ hat den unterdrückten und ausgebeuteten Klassen und Völkern, hat der Menschheit Hoffnung und Perspektive genommen. Sie hat ihr die Lebensalternative zum Kapitalismus, zur Ökonomie des Todes genommen.

Befreiungskampf in Afrika, Asien einschl. Arabien, Lateinamerika: von der sozialistischen Orientierung zum religiösen Fundamentalismus.


Verbindung zu Rosa Luxemburgs Text

Der Leser von „Zur russischen Revolution“ aus dem Jahre 1918 wird kontinuierlich, beinahe Satz für Satz auf das schmähliche, geradezu peinliche Abtreten der kommunistischen Parteien und der von ihnen beherrschten Staaten von der Bühne der Weltgeschichte in den Jahren um 1990 gestoßen. Die Autorin hat nicht nur Schwachstellen, Ungereimtheiten und Brüche mit den eigenen ethischen und politischen Prinzipien sensibel und scharfsinnig aufgespürt, sie zeigt auch, welche gesellschaftlichen Verwerfungen und menschlichen Tragödien die Weichenstellungen der bolschewistischen Führer um 1917 zur Folge haben können. Sie erweist sich als Kassandra an der Wiege einer großen und leider auch über lange Phasen despotischen Macht.

Rosa Luxemburg hat in diesem Text die Wurzeln der gesamten partei- und staatssozialistischen Katastrophe offengelegt. Sie bezeichnet sehr genau die falschen Weichenstellungen von 1917 und danach, und, in ihrem Text „Organisationsfragen“, vor 1917 ****.


Der Text

– Allgemeine Einschätzung: ganz anderes, gegensätzliches Modell der Festigung und Verteidigung der Diktatur des Proletariats. Ja, ein ganz anderer Begriff davon als in den Leninschen Parteien. Tiefe, grundsätzliche Skepsis gegenüber dem Leninschen Organisationsmodell – letztlich dessen Ablehnung (s. „Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie“).

– Höchste Priorität, Messlatte überhaupt für sozialistische Politik, für den Sozialismus an der Macht ist die aktive Mitgestaltung der Umwälzung durch die Menschen, in deren Interesse sie liegt, und die sie auch wollen. Entscheidung der örtlichen Angelegenheiten vor Ort, und zwar nicht durch Dependancen der Zentrale, sondern durch die am Ort Betroffenen selbst. Erkenntnis des Lernprozesses „im Strudel der Ereignisse“. Vertrauen darauf, dass Menschen im eigenen Interesse handeln.

– Die Errungenschaften der bürgerlichen Demokratie, ihre Institutionen, sind zu erhalten. Sie werden sich im revolutionären Prozess mit neuen Inhalten füllen und werden so zu wesentlichen Hebeln der Umgestaltung.

– Die Partei mit konsequentem politischen Willen zur Revolution ist legitimiert, hat sogar die historische Pflicht, die Macht zu erobern, sobald die politisch-historische Situation dies ermöglicht. Diese Legitimation ergibt sich nicht aus irgendwelchen Wahlergebnissen aus der vorrevolutionären Epoche, und nicht aus der Zahl ihrer Mitglieder im Verhältnis zu anderen Parteien. Sie ergibt sich allein aus ihrem Willen, die Revolution im geeigneten Zeitpunkt zu Ende zu führen. Rosa Luxemburg beschreibt, wie sich im Vollzug dieser Politik die Mehrheitsverhältnisse zugunsten der revolutionären Partei verändern – „wirkliche Dialektik der Revolution: … Nicht durch Mehrheit zur revolutionären Taktik, sondern durch revolutionäre Taktik zur Mehrheit geht der Weg“ (S. 341). Hierin sieht sie die demokratische Legitimation der revolutionären Partei.

„In dieser Situation gebührt denn der bolschewistischen Richtung das geschichtliche Verdienst, von Anfang an diejenige Taktik proklamiert und mit eiserner Konsequenz verfolgt zu haben, die allein die Demokratie retten und die Revolution vorwärtstreiben konnte. Die ganze Macht ausschließlich in die Hände der Arbeiter- und Bauernmasse, in die Hände der Sowjets – dies war in der Tat der einzige Ausweg aus der Schwierigkeit, in die die Revolution geraten war … Die wirkliche Situation der russischen Revolution erschöpfte sich nach wenigen Monaten in der Alternative: Sieg der Konterrevolution oder Diktatur des Proletariats, Kaledin***** oder Lenin. Das war die objektive Lage, die sich in jeder Revolution sehr bald, nachdem der erste Rausch verflogen ist, ergibt und die sich in Russland aus den konkreten brennenden Fragen nach dem Frieden und der Landfrage ergab, für die im Rahmen der ´bürgerlichen´ Revolution keine Lösung vorhanden war“ (S. 338 u. 339).


Die Kritik an Lenin und Trotzki

vorab:
– Rosas Fairness, ihr Realismus: realistische Darstellung der schwierigen Situation der Bolschewiki um 1917.
u.a. Kritik am Versagen des deutschen Proletariats und seiner sozialdemokratischen Führung.
Also: Rosa Luxemburgs Analyse und Kritik sind nicht idealistisch.

 

Die Kritikpunkte

1. Die „Agrarverhältnisse“

– „Unmittelbare Landergreifung durch die Bauern hat mit sozialistischer Bewirtschaftung gar nichts gemein“ (S. 342). Das Eigentumsrecht muss stattdessen auf die Nation oder den sozialistischen Staat übertragen werden (S. 342 f.). Die Maßnahme der Bolschewiki, das Land in kleinbäuerliche Betriebe aufzuteilen, „türmt vor der Umgestaltung der Agrarverhältnisse im sozialistischen Sinne unüberwindliche Schwierigkeiten auf“ – unüberwindliche Schwierigkeiten! (S. 343).

„Die Besitzergreifung der Ländereien durch die Bauern auf die kurze und lapidare Parole Lenins und seiner Freunde hin: Geht und nehmt Euch das Land! führte einfach zur plötzlichen chaotischen Überführung des Großgrundbesitzes in bäuerlichen Grundbesitz. Was geschaffen wurde , ist nicht gesellschaftliches Eigentum, sondern neues Privateigentum, und zwar Zerschlagung des großen Eigentums in mittleren und kleineren Besitz, des relativ fortgeschrittenen Großbetriebes in primitiven Kleinbetrieb, der technisch mit den Mitteln aus der Zeit der Pharaonen arbeitet. Nicht genug: Durch diese Maßnahme und die chaotische, rein willkürliche Art ihrer Ausführung wurden die Eigentumsverhältnisse auf dem Land nicht beseitigt, sondern nur verschärft“ (S. 344).

Das historisch wichtigste Argument: „Jetzt, nach der ´Besitzergreifung´, steht als Feind jeder sozialistischen Vergesellschaftung der Landwirtschaft eine enorm angewachsene und erstarkte Masse des besitzenden Bauerntums entgegen, das sein neu erworbenes Eigentum gegen alle sozialistischen Attentate mit Zähnen und mit Nägeln verteidigen wird. Jetzt ist die Frage der künftigen Sozialisierung der Landwirtschaft, also der Produktion überhaupt in Russland, zur Gegensatz- und Kampffrage zwischen dem städtischen Proletariat und der Bauernmasse geworden“ (S. 345).

Lenins „Dekret über den Boden“ hat letztlich Millionen von Kulaken, aber auch Arbeitern, die verhungerten, das Leben gekostet, als Stalin die – ökonomisch und politisch notwendige – Kollektivierung der Landwirtschaft mit Terror durchsetzte. Aber hatte Lenin eine andere Option? Die Bolschewiki brauchten dringend eine Massenbasis, also eine Landbevölkerung/Bauernschaft, die zumindest nicht gegen die bolschewistische Zentrale opponierte. Und hat sich nicht diese Basis in der Bauernklasse im Bürgerkrieg bewährt? Aber warum sollten die Bauern nicht auch als Genossenschafter den Weißen widerstanden und sich der Roten Armee angeschlossen haben? Können diese Fragen heute überhaupt noch beantwortet werden?

 

2. Die Nationalitätenfrage

„Das so genannte Selbstbestimmungsrecht der Nationen oder, was unter dieser Phrase in Wirklichkeit steckte: (der) staatliche Zerfall Russlands. … Zunächst frappiert an der Hartnäckigkeit und starren Konsequenz, mit der Lenin und Genossen an dieser Parole fest hielten, dass sie sowohl in krassem Widerspruch zu ihrem sonstigen ausgesprochenen Zentralismus der Politik wie auch der Haltung steht, die sie den sonstigen demokratischen Grundsätzen gegenüber eingenommen haben. Während sie gegenüber der Konstituierenden Versammlung, dem allgemeinen Wahlrecht, der Presse- und Versammlungsfreiheit, kurz, dem ganzen Apparat der demokratischen Grundfreiheiten der Volksmassen, die alle zusammen das ´Selbstbestimmungsrecht´ in Russland selbst bildeten, eine sehr kühle Geringschätzung an den Tag legten, behandelten sie das Selbstbestimmungsrecht der Nationen als ein Kleinod der demokratischen Politik, dem zuliebe alle praktischen Gesichtspunkte der realen Kritik zu schweigen hätten“ (S. 346 f.).

„Der Widerspruch, der hier klafft, ist umso unverständlicher, als es sich bei den demokratischen Formen des politischen Lebens in jedem Lande … tatsächlich um höchst wertvolle, ja unentbehrliche Grundlagen der sozialistischen Politik handelt, während das famose ´Selbstbestimmungsrecht der Nationen´ nichts als hohle kleinbürgerliche Phraseologie und Humbug ist“ (S. 347).

Die Bolschewiki hätten „die Identität des russischen Reiches als Revolutionsgebiet mit Zähnen und Nägeln verteidigen müssen“ (350).

 

3. Die Verfassung, „Diktatur des Proletariats“

Rosas Kritik: Abschaffung zunächst der bürgerlichen, dann der spontanen revolutionären Demokratie, ihre Ersetzung durch Scheindemokratie und Bürokratie.


Aktuelle Verleumdungen der Rosa Luxemburg

Rosa Luxemburg und die Diktatur des Proletariats. Hier setzen ihre und unsere Gegner stets an, und zwar gern mit dem Zitat: „Sofort sozialistische Maßnahmen in energischster, unnachgiebigster, rücksichtslosester Weise in Angriff nehmen“ (Der Spiegel, 11/2002). Hier wird dieses Zitat nicht nur aus dem Zusammenhang gerissen, sondern auch aus dem Satz: „(Das Proletariat) soll und muss eben sofort sozialistische Maßnahmen in energischster, unnachgiebigster, rücksichtslosester Weise in Angriff nehmen, also Diktatur ausüben, aber Diktatur der Klasse, nicht einer Partei oder einer Clique, Diktatur der Klasse, d. h. in breitester Öffentlichkeit, unter tätigster ungehemmter Teilnahme der Volksmassen, in unbeschränkter Demokratie … Wir unterschieden stets den sozialen Kern von der politischen Form der bürgerlichen Demokratie, wir enthüllten stets den herben Kern der sozialen Ungleichheit und Unfreiheit unter der süßen Schale der formalen Gleichheit und Freiheit – nicht um diese zu verwerfen, sondern um die Arbeiterklasse dazu anzustacheln, sich nicht mit der Schale zu begnügen, vielmehr die politische Macht zu erobern, um sie mit neuem sozialen Inhalt zu füllen. Es ist die historische Aufgabe des Proletariats, wenn es zur Macht gelangt, anstelle der bürgerlichen Demokratie sozialistische Demokratie zu schaffen, nicht jegliche Demokratie abzuschaffen. Sozialistische Demokratie beginnt aber nicht erst im gelobten Lande, wenn der Unterbau der sozialistischen Wirtschaft geschaffen ist, als fertiges Weihnachtsgeschenk für das brave Volk, das inzwischen treu die Handvoll sozialistischer Diktatoren unterstützt hat. Sozialistische Demokratie beginnt zugleich mit dem Abbau der Klassenherrschaft und dem Aufbau des Sozialismus. Sie beginnt mit dem Moment der Machteroberung durch die sozialistische Partei. Sie ist nichts anderes als Diktatur des Proletariats“ (S. 363).


Rosas konkrete Kritik an Lenin-Trotzki

– Auflösung der konstituierenden Versammlung, Nov. 1917. Richtiger wäre es gewesen, Neuwahlen auszuschreiben (S. 353). Rosa Luxemburg zitiert Trotzki, der den „schwerfälligen Mechanismus der demokratischen Institutionen“ feststellt (S. 354). Ihre Antwort:

„Nur ist das Heilmittel, das Trotzki und Lenin gefunden: die Beseitigung der Demokratie überhaupt, noch schlimmer als das Übel, dem es steuern soll: Es verschüttet nämlich den lebendigen Quell selbst, aus dem heraus alle angeborenen Unzulänglichkeiten der sozialen Institutionen allein korrigiert werden können: das aktive, ungehemmte, energische politische Leben der breitesten Volksmassen“ (S. 355 f.).

– Ablehnung des allgemeinen Wahlrechts durch Lenin und Trotzki. Aber trotzdem gleichzeitig Ausarbeitung eines allgemeinen Wahlrechts (S. 356). Das führte zum grauenhaften Missbrauch des Wahlrechts in allen realsozialistischen Ländern. Warum haben die immer noch wählen lassen? Letztlich haben sie mit jeder „Wahl“ nur eine Vorlage für die bürgerliche und imperialistische Propaganda geliefert – und sich der Wut und dem Spott ihrer „Wähler“ ausgesetzt.

– „Abschaffung der wichtigsten demokratischen Garantien eines gesunden öffentlichen Lebens und der politischen Aktivität der arbeitenden Massen …“ (S. 358 f.). Die Folgen: „Aber mit dem Erdrücken des politischen Lebens im ganzen Lande muss auch das Leben in den Sowjets immer mehr erlahmen. Ohne allgemeine Wahlen, ungehemmte Presse- und Versammlungsfreiheit, freien Meinungskampf erstirbt das Leben in jeder öffentlichen Institution, wird zum Scheinleben, in der die Bürokratie allein das tätige Element bleibt“ (S. 362). Was für eine seherische Kraft!

Diese Kritik an Lenin und Trotzki führt zu einer (partiellen) Gleichstellung der bolschewistischen Anführer mit Kautsky: „Der Grundfehler der Lenin-Trotzkischen Theorie ist eben der, dass sie die Diktatur, genau wie Kautsky, der Demokratie entgegenstellen. ´Diktatur oder Demokratie´ heißt die Fragestellung sowohl bei den Bolschewiki wie bei Kautsky. Dieser entscheidet sich natürlich für die Demokratie, und zwar für die bürgerliche Demokratie, da er sie eben als Alternative zur sozialistischen Umwälzung hinstellt. Lenin-Trotzki entscheiden sich umgekehrt für die Diktatur im Gegensatz zur Demokratie und damit für die Diktatur einer Handvoll Personen, d.h. für bürgerliche Diktatur. Es sind zwei Gegenpole, beide gleich weit entfernt von der wirklichen sozialistischen Politik“ (S. 362).

„Jawohl: Diktatur! Aber diese Diktatur besteht in der Art der Verwendung der Demokratie, nicht in ihrer Abschaffung, in energischen, entschlossenen Eingriffen in die wohlerworbenen Rechte und wirtschaftlichen Verhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft, ohne welche sich die sozialistische Umwälzung nicht verwirklichen lässt. Aber diese Diktatur muss das Werk der Klasse und nicht einer kleinen, führenden Minderheit im Namen der Klasse sein, d.h., sie muss auf Schritt und Tritt aus der aktiven Teilnahme der Massen hervorgehen, unter ihrer unmittelbaren Beeinflussung stehen, der Kontrolle der gesamten Öffentlichkeit unterstehen, aus der wachsenden politischen Schulung der Volksmassen hervorgehen“ (S. 363 f.).

Rosa Luxemburg fügt aber auch hinzu: „Genau so würden auch sicher die Bolschewiki vorgehen, wenn sie nicht unter dem furchtbaren Zwang des Weltkrieges, der deutschen Okkupation und aller damit verbundenen abnormen Schwierigkeiten litten, die jede von den besten Absichten und den schönsten Grundsätzen erfüllte sozialistische Politik verzerren müssen“ (S. 364).

Was Rosa Luxemburg mit den „neuen sozialen Inhalten“ meint, mit denen die bürgerliche Demokratie durch die Diktatur des Proletariats zu füllen ist, ergibt sich aus ihrem gesamten Werk: wirtschaftliche Enteignung der Bourgeoisie und ihre politische Entmachtung durch Zerschlagung ihrer Machtapparate Armee, Polizei, Justiz – Zerschlagung als Machtinstrumente der Bourgeoisie, nicht ihre Abschaffung.

 

4. Die Oktoberrevolution – Modell aller sozialistischen Umwälzungen?

Zurückweisung des Lenin-Trotzkischen Anspruchs auf allgemeine Gültigkeit, also des Versuchs, die auf eine ganz bestimmte historische Situation bezogene, aus einer extremen Notlage des russischen Proletariats und seiner Organisationen geborenen Maßnahmen (dazu häufig, wie gezeigt, falsche Maßnahmen), mit dem Nimbus des Vollzugs stets und überall gültiger historischer Gesetze auszustatten, die Politik der Bolschewiki in einer ganz und gar einmaligen, einmalig schwierigen historischen Situation zur verbindlichen Richtlinie für alle sozialistischen Parteien dieser Welt in jeder gegenwärtigen und in jeder kommenden Situation zu erheben.

„Das Gefährliche beginnt dort, wo (Lenin und Genossen) aus der Not die Tugend machen, ihre von diesen fatalen Bedingungen aufgezwungene Taktik nunmehr theoretisch in allen Stücken fixieren und dem internationalen Proletariat als das Muster der sozialistischen Taktik zur Nachahmung empfehlen wollen. Wie sie sich damit selbst völlig unnötig im Lichte stehen und ihr wirkliches, unbestreitbares historisches Verdienst unter den Scheffel notgedrungener Fehltritte stellen, so erweisen sie dem internationalen Sozialismus, dem zuliebe und um dessentwillen sie gestritten und gelitten, einen schlechten Dienst, wenn sie in seine Rüstkammer als neue Erkenntnis all die von Not und Zwang in Russland eingegebenen Schiefheiten eintragen wollen, die letzten Endes nur Ausstrahlungen des Bankrotts des internationalen Sozialismus in diesem Weltkriege waren“ (S. 364).

“Zur russischen Revolution“ beantwortet wichtige Fragen, lässt aber auch vieles offen. Es ist nicht Rosas Schuld, dass sie an der Klärung der offenen Probleme und an der Bewältigung der späteren historischen Herausforderungen nicht mehr mitwirken konnte.

 

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Zwei Jahre später stieß ich auf den folgenden Text:

„…. eine Prophezeiung Kropotkins, des großen anarchistischen Revolutionärs. Nach der Revolution von 1917 kehrte er zurück nach Russland und kritisierte die Bolschewisten (sic!), vor allem Lenin. Es gibt einen Briefwechsel zwischen Lenin und Kropotkin, in dem Kropotkin schrieb:

´Sie schaffen einen nicht-effektiven Gesellschaftsaufbau, aber schließlich, nach ein paar Generationen, wird dieser Bau untergehen. Doch das hauptsächliche Elend und die hauptsächliche Tragödie für die Gesellschaft und für die Menschheit liegt darin, dass Sie, indem Sie einen kasernenartigen Staatskollektivismus aufbauen, die spontane Fähigkeit der Menschen zur gegenseitigen Hilfe und zum freien Kollektivismus zerstören. Die Menschen werden derart eingeschüchtert sein, sie werden Ihren kasernenartigen Zwangs-Kollektivismus derart satt haben, dass dann, wenn Ihre Gesellschaft in ihre Bestandteile zerfällt, alle diese Menschen erschreckende Individualisten werden. Sie werden nicht mehr in der Lage sein, sich miteinander zu verbinden.´“

RUSSLAND: Symbiose von kollektiver Wirtschaft und Familienbetrieb, von Alexander Nikulin, in: Archipel, Monatszeitung des Europäischen Bürgerforums, August/September 2004, Nr. 119

 

Fußnoten:

* Rosa Luxemburg: Gesammelte Werke, Band 4 – August 1914 bis Januar 1919. Dietz Verlag Berlin-DDR 1974, S. 332-365
** Milovan Djilas: Die Neue Klasse. Eine Analyse des kommunistischen Systems, München 1958
*** Arthur Koestler: Sonnenfinsternis. Mit einem Nachwort des Autors. Durchgesehene Neuauflage. Eu-ropa-Verlag, Wien/Zürich 1991 (deutsche Erstausgabe London 1946)
**** Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie, ebd., Band 1, Zweiter Halbband, S.422-444 (verfasst 1904).
***** Zaristischer General und Kosaken-Ataman. Versuchte einen Aufstand gegen die Bolschewiki. Nahm sich nach seiner Niederlage das Leben.

 

 

„Eine Schlange brachte mich auf die Idee, dass der Untergang der UdSSR bevorstehe. Das war im Jahr 1976, ich weilte als Austauschwissenschaftlerin der FU Berlin im Rahmen eines Forschungsprojektes über die Industrialisierung der Sowjetunion an der Leningrader Staatlichen Universität. In Moskau genoss ich einmal das Privileg, im ersten Lesesaal der Lenin-Bibliothek arbeiten zu dürfen. Ich teilte es mit bärtigen Professoren aus der ganzen Sowjetunion, einige von ihnen internationale Koryphäen. Die traf ich dann im Keller des Gebäudes wieder, wo sie bis zu einer halben Stunde anstehen mussten, um die Erlaubnis des Zensors zu erhalten, die eine oder andere Buchseite zu xerokopieren. Ich dachte: Ein Land, welches die Verbreitung von Informationen derart behinderte, dessen Tage mussten einfach gezählt sein.

Zurück in Leningrad saß ich abends mit meinem Wiener Kumpel Josef in seinem Zimmer unter dem Dach unseres Wohnheims und teilte ihm flüsternd meine Moskauer Erlebnisse mit. Wir nahmen Rücksicht auf seinen sibirischen Mitbewohner, der in einer Ecke schnarchte. Nach fast 10 Monaten im Wohnheim hatten wir uns an Kaker-laken und Schmutz gewöhnt und auch an das Gefühl, stets abgehört oder bespitzelt zu werden. Den Satz über das bevorstehende Ende der UdSSR kritzelte ich auf ein Blatt Klopapier. Zu meiner Überraschung kritzelte Josef dazu: „Ich glaube das auch“. „Wie viele Jahre noch?“, kritzelte ich. Wir gaben der Sowjetunion noch 20 Jahre und damit fünf zu viel.“

Barbara Kerneck, taz vom 9. September 2022