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Oktober | 2020

Die letzten Hinrichtungen von NS-Verbrechern in Landsberg


Die Trauer eines Pfarrers

 

1948, als noch alliiertes Recht und alliierte Macht im „zusammengebrochenen“ Deutschland galten, wurde eine Reihe von NS-Tätern zum Tode verurteilt und die letzten am 7. Juni 1951 in Landsberg hingerichtet, nach moralischer Empörung (kein Witz!), Gejammer in der westdeutschen Öffentlichkeit und Gnadengesuchen seitens der politischen und religiösen Eliten. Ich lebte in Medebach/Sauerland. Wir hatten an diesem Tag gerade Schulgottesdienst (einmal in der Woche, Erscheinen Pflicht, obwohl wir Schüler eines städtischen Gymnasiums waren). Nach dem Evangelium hielt der bis heute in Medebach hoch angesehene Pfarrer Inkmann wie üblich seine Ansprache an uns Kinder. Er stand in seinem Messgewand an der Kommunionbank, nicht auf der Kanzel, ich sehe ihn vor mir. Er begann damit, uns mitzuteilen, dass er heute sehr traurig sei. Vor der Messe habe er im Radio gehört, dass die letzten wegen Kriegsverbrechen zum Tode verurteilten Deutschen heute früh in Landsberg hingerichtet worden seien. Er erklärte seine Trauer nicht damit, dass er als Christ grundsätzlich gegen das Töten von Menschen sei, sondern damit, dass es ungerecht sei, wenn nach einem Krieg die Sieger Politiker und Kriegsteilnehmer des Besiegten hinrichten würden.

Von Pfarrer Inkmann ist keinerlei Äußerung der Ablehnung des Nazi-Regimes, geschweige denn der Empörung über dessen Verbrechen, und kein Anzeichen der Trauer über die Opfer der Nazis überliefert. Nichts dergleichen bekam ich in den Jahren seines Religionsunterrichts zu hören. Wohl aber dieses: einmal schwärmte er von der Versenkung der Royal Oak durch Kapitänleutnant Prien in der Bucht Scapa Flow – 833 ertrunkene britische Seeleute. Ein anderes Mal erzählte er begeistert von der Eroberung Tobruks durch Feldmarschall Rommel – insgesamt 85.000 Tote im Afrikafeldzug. Und auch dieses bekam ich zu hören: Die Ermordung der Juden sei vielleicht die Strafe Gottes für die Verstocktheit des auserwählten Volkes.

Pfarrer Inkmanns Lieblingsthema im Religionsunterricht war die Keuschheit. Er hatte eine Heldin, mit der er uns Schüler in meiner Erinnerung jahrelang langweilte: Maria Goretti. Als 12-Jährige wehrte sie sich gegen eine Vergewaltigung und wurde ermordet. Sie wurde 1950 von Papst Pius XII. heilig gesprochen. Pius wollte wohl sein Gewissen vor Gott entlasten. Er hatte nichts für die Rettung der italienischen Juden getan.

Die Trauer des Pfarrers Inkmann, die ihn so überwältigt hatte, dass er sie uns Kindern in der Kirche sogleich mitteilen musste, hat der Tod folgender Männer ausgelöst:

Paul Blobel, zum Tode verurteilt wegen der Ermordung von mindestens 60.000 Menschen, unter anderem in Babij Jar. Blobel war Sonderkommando-Führer der Einsatzgruppen zur Vernichtung der Juden in der Sowjetunion.
Otto Ohlendorf, zum Tode verurteilt wegen der Ermordung von über 90.000 Menschen.
Erich Naumann, zum Tode verurteilt unter anderem wegen der Beteiligung an der Ermordung von 134.298 Menschen. (Diese Zahl stammt von ihm selbst, eine Meldung nach Berlin – exakte Buchführung.)
Werner Braune, zum Tode verurteilt unter anderem wegen Verantwortung für die Ermordung von 14.300 Menschen innerhalb von drei Tagen.
Oswald Pohl, zum Tode verurteilt wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Verschwörung zur Begehung von Kriegsverbrechen. SS-Obergruppenführer Pohl war maßgeblich an der Durchführung des Holocaust beteiligt.
Georg Schallermair, zum Tode verurteilt unter anderem, weil er Häftlinge eigenhändig zu Tode geprügelt hat.
Hans-Theodor Schmidt, zum Tode verurteilt u. a. wegen grausamer Ermordung von mehreren hundert Kriegsgefangenen.

Dieser Pfarrer repräsentiert genau die dominante Stimmung in der jungen Bundesrepublik, die Zeit unserer Kindheit und Jugend. Das dominante Verhalten war das Schweigen über die Nazizeit. Wenn sich eine Stellungnahme, eine Antwort auf die Frage von Jüngeren, nicht vermeiden ließ, bekamen wir in Endlosschleife dieses zu hören: „Endlich einen Schlussstrich ziehen“, „die anderen haben auch … wer bestraft denn die?“, „das kann man doch heute gar nicht mehr beurteilen, da wird auch vieles übertrieben“, „wir haben heute andere Sorgen“. Es war die Zeit des „die haben doch auch nur ihre Pflicht getan“. Es war auch die Zeit des Heraushaltens der Wehrmacht aus den von Deutschen begangenen Verbrechen.

Es war die Zeit der „Persilscheine“ und der flächendeckenden Wiedereinsetzung der Juristen, Polizisten, Schul- und Hochschullehrer, Mediziner, Journalisten aus der Nazizeit – sofern sie denn überhaupt „beurlaubt“ worden waren. Es war die Zeit, in der von den Alliierten verurteilte (Wehr-)Wirtschaftsführer aus den Gefängnissen direkt auf ihre Vorstandssessel wechselten. Die Mörder waren über uns.

Die sieben im Juni 1951 in Landsberg Hingerichteten, und immerhin etliche andere, hat die Gerechtigkeit erwischt, aber ausschließlich dank alliierter, polnischer, tschechoslowakischer, jugoslawischer Gerichte. Dann kam die Stunde der (west-)deutschen Rechtspflege. Was die in der „Verfolgung“ bzw. „juristischen Aufarbeitung“ nationalsozialistischer Verbrechen leistete, ist – von Ausnahmen abgesehen – ein Skandal und eine Verhöhnung der Opfer. Das ist heute fast allgemeiner Konsens.

In der Nacht vom 10. zum 11. November 1938 haben die Medebacher Nazis – es waren viele – die Synagoge der jüdischen Gemeinde mit Traktoren abgerissen und den jüdischen Friedhof verwüstet. Die Geschäfte der Juden wurden vollständig demoliert, ihre Wohnungen verwüstet. Die jüdischen Familien lebten seit Jahrhunderten in Medebach, als gute Nachbarn und Medebacher. 15 von ihnen wurden in Vernichtungslagern der Nazis ermordet, eine einzige überlebte die KZ-Haft, einige konnten emigrieren. Auch darüber hat Pfarrer Inkmann im Unterricht nie ein Wort verloren, meines Wissens auch nicht von der Kanzel. Er war ja 1938 noch nicht Pfarrer in Medebach!