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Mai | 2010

Aygül Özkan


Muslimische Ministerin in Niedersachsen

 

Der Ministerpräsident von Niedersachsen, Christian Wulff (CDU), hatte am 27. April 2010 die Muslimin Aygül Özkan (ebenfalls CDU) zur Ministerin für Soziales, Frauen, Familie, Gesundheit und Integration berufen. Kurz darauf sagte Christian Wulff als Bundespräsident in seiner Bremer Rede am 3. Oktober 2010: „Das Christentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das Judentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das ist unsere christlich-jüdische Geschichte. Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland.“

Unionsfraktionschef Volker Kauder (CDU) und andere Unionspolitiker hatten die islamfreundlichen Worte Wulffs bemängelt. Diese haben „dazu geführt, dass erklärende Interpretationen notwendig geworden sind“, sagte Kauder. Der Maßstab für das Zusammenleben in Deutschland sei das Grundgesetz, „das auf unserem christlich-jüdischen Erbe beruht“. Der Islam könne nicht das Werte-Fundament der deutschen Gesellschaft bilden. Daran knüpfte ein Schulfreund und CDU-Mitglied in einem Brief an seinen CDU-Abgeordneten an und forderte die Entlassung von Aygül Özkan.

Hier meine Antwort:

Ein Wort zu Deinem Brief zu Frau Özkan an Deinen Abgeordneten: unser „christliches“ Deutschland. Alles, was unsere Zivilgesellschaft ausmacht, alles, was uns im Leben miteinander wirklich wichtig ist: Grundrechte, Demokratie, Gewaltenteilung, weltanschauliche und religiöse Neutralität des Staates (bedeutet keineswegs Werte-Neutralität!), das alles haben unsere Vorfahren nicht mit den Kirchen erkämpft, sondern vielfach gegen sie. Die protestantischen Kirchen waren mehr oder weniger Eigentum der jeweiligen Landesherren, und die römische Kirche stellte sich gegen die Aufklärung und stand in den Kämpfen für bürgerliche Verfassungen und Demokratie niemals auf Seiten der individuellen und gesellschaftlichen Emanzipation. Niemals war die Selbstbestimmung des Individuums das Ziel der katholischen Kirche, bis heute bevormundet sie rigoros unter Berufung auf ihre Kenntnis des göttlichen Willens die Gläubigen, besonders folgenschwer in der Sexualmoral. Tödliche Folgen hat(te) auch die traditionelle Haltung der Kirchen zum Krieg, wogegen eines der zentralen Anliegen der Aufklärung das friedliche Miteinander der Menschen und Staaten ist (Kant). Erst kürzlich habe ich beim Historiker Wolfgang Mommsen gelesen, wie sehr sich auch die kath. Kirche mit den Kriegszielen des kaiserlichen Deutschland identifizierte, und wie sie die Millionen katholischen Soldaten motivierte, indem sie den „Heldentod“ zum Märtyrertod (= Himmel sofort) verklärte! (Siehe auch Heinrich Missalla: Gott mit uns. Die deutsche katholische Kriegspredikt 1914–1918, habe ich in meiner Jugend mal besprochen, Das Argument 51, 1969). Die französischen, britischen, italienischen Bischöfe werden nicht anders gesprochen haben (una sancta!), und die russisch-orthodoxen erst recht nicht.

Zum reichlich diskutierten Thema katholische Kirche und Nationalsozialismus wollte ich eigentlich hier schweigen, aber da der folgende Text zufällig hic et nunc auf meinem Schreibtisch liegt, und da er unseren lieben Bischof aus Sankt-Ansgar-Zeiten betrifft, kann ich mir das Zitat nicht verkneifen:

„Lob für die Lager kam auch von unerwarteter Seite, zum Beispiel, als der katholische Bischof von Osnabrück, Berning, im Sommer 1936 (!!!, B.S.) den Emslandlagern einen offiziellen Besuch abstattete. In einem Presseartikel wurde er mit den Worten zitiert: ,Hierhin müssten alle die geführt werden, die noch zweifeln an der Aufbauarbeit des Dritten Reiches. Was man früher versäumte, das ist heute hier in Angriff genommen worden‘. Mit einem poetischen Bild sagte Berning, das Emsland habe in einem Dornröschenschlaf gelegen und lange auf seinen Prinzen gewartet; ,dieser Prinz‘, setzte er .. hinzu, ,ist unser Führer Adolf Hitler‘.“ (Robert Gellately: Hingeschaut und weggesehen. Hitler und sein Volk, München 2004, S. 85 f.).

Für das innere Verhältnis der katholischen Kirche zur Demokratie und zum Rechtsstaat ist aufschlussreich, dass sie sich jedes Mal, wenn Demokratie und Rechtsstaatlichkeit von Rechtsaußen beseitigt wurden, sehr rasch mit den neuen diktatorischen Machthabern arrangierte – oder sie sogar aktiv unterstützte. Als Beispiele nenne ich hier nur Mussolini, Franco, Salazar, Pavelic, Horthy, Pinochet und eine lange Reihe lateinamerikanischer Despoten – und nicht zuletzt Hitler. Sobald die katholische Kirche nicht mehr aus opportunistischen Gründen für die Demokratie sein musste, legte sie dieses Mäntelchen flugs ab. Von einer seit anderthalb Jahrtausenden zutiefst autoritären, antidemokratischen und den Freiheitsrechten des Individuums, gelinde gesagt, äußerst skeptisch gegenüber stehenden Institution kann man gar nichts anderes erwarten.

In ökumenischer Nächstenliebe wollen wir hier die evangelischen Kirchen nicht ganz vergessen: „Evangelischer Glaube weiß, dass man Gott und seinem Reiche in jedem Berufe dienen kann. Wir sehen in den Männern der nationalsozialistischen Bewegung und des nationalsozialistischen Staates Gottes Werkzeuge und Diener in der Erneuerung unserer deutschen christlichen Volksordnung. Unsere Deutsche Evangelische Kirche steht bei dem ihr aufgetragenen besonderen Dienste mit diesen Männern in dem gleichen Lebensraum des deutschen Volkes. Indem sie mit ihnen im Vertrauen an dem Werke des Neubaus zusammenarbeitet, verzichtet sie auf ein falsches Eigenwesen und gewinnt die ihr von Gott einzig gewährte Hoheit des Dienstes.“ Bekenntnis Deutscher Christen, zur Weihnachtszeit 1933 – nach fast einem Jahr des Mordens, Folterns, der ersten Konzentrationslager, eines enthemmten Antisemitismus, der Rechtlosigkeit. Alle Christen, erst recht alle Kirchenführer in Deutschland wussten das bis ins Detail.

Das Christliche in unserem Land vollzieht sich in den vielen guten Werken, die Christen vollbringen, und in dem Streben so vieler Menschen, nach christlichen Grundsätzen zu leben. Es vollzieht sich letztlich in der Nächstenliebe. Aber bitte nicht übersehen, dass auch andere Gutes tun und sich um eine anständige Lebensführung bemühen. Dass auch bei denen das christliche Erbe unbewusst mitwirkt, ist möglich, wie auch vieles dafür spricht, dass die europäische Aufklärung sich auch aus christlichen Wurzeln gespeist hat. Aber dann ist doch wohl eher die wirkliche Wurzel zu nennen, nämlich die Lehre und die Praxis des Christus, und weniger die der Kirchen.

Das christliche Wirken der Menschen in ihrem privaten und öffentlichen Umfeld beeinträchtigt eine Ministerin moslemischer Herkunft überhaupt nicht, Frau Özkan behindert doch nicht die Nächstenliebe! Ich sehe somit für Deine Empörung keinen Anlass. Und warum sollte eine Frau muslimischer Herkunft nicht in der CDU sein? Entscheidend sind doch wohl ihre Werte, ihr politisches Wollen und Handeln. „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen!“ Würde man alle CDU-Mitglieder auf ihre konsequente christliche Haltung hin überprüfen und alle, die diese Prüfung nicht bestehen, aus der Partei ausschließen – was bliebe wohl von dieser Partei übrig? Möglicherweise würde Frau Özkan diese Prüfung bestehen.

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Max Horkheimer: Zum Problem der Wahrheit
Zeitschrift für Sozialforschung, Jahrgang 1935. VI, 3, S. 321–363, erschienen im Pariser Exil

Im dialektischen Denken werden auch die religiösen Phänomene auf das Ganze der Erkenntnis bezogen und jeweils im Zusammenhang mit der Analyse der gesamten historischen Situation beurteilt. So sehr die Einsicht in die Unverträglichkeit des religiösen Inhalts mit der fortgeschrittenen Erkenntnis wichtig ist, so sehr beweist die Gegenwart, dass andererseits die Zentrierung der gesamten kulturellen Problematik um religiöse Fragen schief sein kann. In der Literatur der katholischen Gegenrevolution in Frankreich, bei Bonald und de Maistre, in den Schriften des katholischen Royalisten Balzac ist mehr eindringende Analyse der bürgerlichen Gesellschaft zu finden als bei den gleichzeitigen Kritikern der Religion in Deutschland. Die gläubigen Victor Hugo und Tolstoi haben das Grauen der bestehenden Zustände großartiger dargestellt und schärfer bekämpft als die aufgeklärten Gutzkow und Friedrich Theodor Vischer. In der Praxis des täglichen Lebens können Bestrebungen, die sich am dialektischen Denken orientieren, zum zeitweiligen Zusammengehen mit religiös gerichteten Gruppen und Tendenzen und in radikalen Gegensatz zu antireligiösen führen. Der historische Aufgabenkreis, der für eine illusionslose und nach vorwärts gerichtete Haltung in der Gegenwart maßgebend ist, stellt die Menschen nicht primär auf Grund ihrer religiösen Entscheidungen einander gegenüber. Das bestimmte, freilich theoretisch zu explizierende Interesse an gerechten Zuständen, welche die freie Entfaltung der Menschen bedingen, an der Überwindung von Verhältnissen der Unfreiheit, die der Menschheit gefährlich und unwürdig sind, oder das Fehlen dieses Interesses ermöglicht heute eine raschere Kennzeichnung von Gruppen und Individuen als ihr Verhalten zur Religion (S. 362).

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Anmerkung: Was H. über Bonard, de Maistre, Vischer und Gutzkow schreibt, fand ich bei Wikipedia nicht bestätigt. Aber ich vermute, H. kennt diese Denker besser als es die Autoren von Wikipedia tun. Inzwischen, Oktober 2010, habe ich einige Texte von Gutzkow gelesen: ein netter Kerl, der auch recht gut schreiben kann, historisch durchaus interessant – aber im Kern hat Horkheimer recht.
Bei Balzac und Tolstoi bin ich völlig d´accord. Tolstoi hat z.B. einen großartigen Brief an die Leitung der orthodoxen Kirche geschrieben, nachdem diese ihn exkommuniziert hatte: „Antwort auf den Beschluss des Synods vom 20. bis 22. Februar und auf die aus diesem Anlass bei mir eingegangenen Briefe.“ Das liest sich fast durchgängig wie eine Kritik unserer heutigen Kirchen. Das von Tolstoi voraus gestellt Motto möchte ich Dir nicht vorenthalten:

He who begins by loving Christianity better than Truth will proceed by loving his own Sect or Church better than Christianity, and end in loving himself better than all. Coleridge (den ich nicht kenne, Bernd)

Bernd Schüngel, April/Mai 2010