Texte
alle Texte
Themen:

Juni | 1999

24. März 1999 bis 9. Juni 1999


NATO-Angriffskrieg gegen Serbien

 

Auszüge aus Briefen an Gerwin Klinger (Mitglied bei den GRÜNEN)* , an meine Mutter, an meinen Sohn Martin in Israel, an Joachim Bahlcke.
Ende März bis Mitte Mai 1999

Die Nachrichten, obwohl aus beiden Quellen gefiltert und manipuliert, wie man weiß, werden immer bedrückender, die Situation scheint ohne Ausweg. Kannst Du mir folgendes erklären: Weil Milosevic im Kosovo Albaner ermordet und den Überlebenden die wirtschaftlichen und zivilisatorischen Existenzbedingungen zerstört, ermorden wir jetzt Serben und zerstören den Überlebenden die Existenzbedingungen – wahrscheinlich für Jahrzehnte. Ist das nicht das morali-sche Niveau der Blutrachegesellschaft? Sind wir in Wirklichkeit noch keinen Schritt über diese hinausgelangt? Zumal ja das Zerstören Serbiens den Opfern des Massenmörders Milosevic nicht im geringsten nützt! Die Bombardierung Serbiens und des Kosovo durch uns (wir alle sind verantwortlich) hat doch die Situation der Kosovo-Albaner extrem verschlechtert. Wenn man ihnen wirklich helfen wollte, hätte man an Ort und Stelle mit Bodentruppen eingreifen müssen. Offensichtlich sind die NATO-Militärs und Politiker Feiglinge.

Ich war und bin strikt gegen den Einsatz von Bodentruppen, wegen seiner Verluste an Menschen auf beiden Seiten, der großen Risiken, der unübersehbaren Folgen bis hin zu einer möglichen gesamteuropäischen Katastrophe. Aber wer sagt, ich will den armen Menschen dort, den Opfern dieser hemmungslosen Gewalt militärisch helfen, der muss das dann auch mit den adäquaten Mitteln tun – und muss auch zu Opfern bereit sein, und muss auch den Anstand ha-ben, das den Menschen seines Landes klar und deutlich zu sagen. Ist es nicht auch feige, den Bombenkrieg ausschließlich aus einer Höhe zu führen, die die eigenen Flugzeuge unerreichbar für die Abwehr des Angegriffenen macht? Die Folge ist natürlich, dass aus dieser Flughöhe und bei diesen enormen Geschwindigkeiten die „targets“ nicht immer mit Sicherheit auszumachen sind. Da kann, da muss es passieren, dass ein Flüchtlingstreck mal für einen Militärkonvoi gehalten wird, und dabei kommen schon mal 76 Zivilisten um, vom Baby bis zur Greisin. Also genau die Menschen, die man angeblich mit diesem gewaltigen Einsatz an Waffentechnik, Logistik, Geld und Propaganda retten will.

Wie sehr es gerade den schärfsten Befürwortern des Bombenkrieges und des kommenden Einsatzes von Bodentruppen um die Menschen geht, zeigt deren Bereitschaft, albanische Flüchtlinge aufzunehmen: Nur mit erheblichem Druck konnte Großbritannien dazu gebracht werden, gerade mal 200 aufzunehmen, die USA haben meines Wissens überhaupt noch keine aufgenommen – Deutschland immerhin 10.000, und das innerhalb von ein paar Tagen. Auch beim Aufbau der Zeltlager und der Versorgung der Flüchtlinge auf dem Balkan selbst hat sich Blair bisher nicht besonders hervorgetan, wohl aber jedes Mal bei der Intensivierung der Bombardierungen.

Wie wir hintergangen wurden: Ausschließlich militärische Ziele werden angegrif-fen, wurde uns von allen verantwortlichen Seiten immer und immer wieder versichert. Als vor ca. 14 Tagen das Gerücht verbreitet wurde, die NATO habe die Zentrale des jugoslawischen Fernsehens bombardiert, wurde das vom NATO-Sprecher Shea vehement dementiert und von ihm auf der Pressekonferenz ge-gen Oberbefehlshaber Clark festgestellt, dass ein Fernsehsender kein militärisches Ziel sei. Gestern wurde diese Zentrale zerstört, es gab mindestens 10 Tote und 18 Verletzte – Zivilisten natürlich.

Inzwischen wurden zerbombt: sämtliche Donaubrücken des Landes, Wärme- und andere Kraftwerke, Fernleitungen für Strom, alle Benzinfabriken, alle Zigarettenfabriken, das größte Autowerk, Chemiefabriken für zivile Produktion, Lebensmittellager, eine Universität und ein Studentenwohnheim, das Fernsehnetz, Verwaltungsgebäude, der Präsidentenpalast, ein Personenzug mit über 10 Toten und vielen Verletzten, zwei albanische Flüchtlingstrecks mit an die 100 Toten, eine Menge Industrieanlagen aus den verschiedensten Branchen, einige Wohngebiete, auch Siedlungen mit Einfamilienhäusern, mit vielen Toten.

Die GRÜNEN: Du kannst Dir einfach deren Verlogenheit und Erbärmlichkeit nicht vorstellen. Z.B. hat die Fraktion ganz offensichtlich zur Beschwichtigung, zur Einschwörung auf die Koalitionslinie, offensichtlich nicht zur Klärung der Problemlage, in ihren „Eckpunkten“ zum Bombenüberfall auf Jugoslawien festgestellt, dass „der Bombenkrieg in keiner Weise sein Ziel erreicht“ hat, aber dass man jetzt nicht damit aufhören dürfe. Sie kleben alle an ihren mit so mühevollen und noch mühevoller „gerechtfertigten“ Verrenkungen errungenen Pos-ten. Dafür lassen sie schon mal ein paar hundert serbische Zivilisten draufgehen. Und noch viel mehr Albaner, denn der Bombenkrieg hat dazu geführt, dass das Milosevic-Regime und die marodierenden serbischen Faschobanden alle Hemmungen fallengelassen und die „ethnische Säuberung“ beschleunigt und brutalisiert haben. Psychologisch nachvollziehbar: die serbischen Extremisten kommen an die Flugzeuge der NATO nicht ran, da greifen sie sich die-jenigen, zu deren Gunsten angeblich dieser für sie demütigende Bombenterror allein stattfindet. Mit ihrem Vorgehen gegen die NATO-Schützlinge beweisen sie ganz bewusst die Wirkungslosigkeit, sogar die Kontraproduktivität, der Bombenangriffe.

Wie souverän ist die deutsche Regierung? Sind Schröder und Fischer gefragt worden, bevor die NATO sich entschloss, die Elektrizitätsversorgung ganz Ju-goslawiens zu vernichten? Ist diese Ausweitung der „militärischen Ziele“ vom Beschluss des Deutschen Bundestages gedeckt? Ganz Jugoslawien ohne Elektrizität – die Babys sterben in ihren Brutkästen.

Ist es nicht die unwiderlegbare Widerlegung der Behauptung, man kämpfe al-lein aus humanitären Gründen, allein für die Menschenrechte der Kosovo-Albaner, der Beweis, dass die humanitären Ziele der NATO nur vorgeschoben, nur Propaganda zur Beförderung ganz anderer Zwecke sind, dass bei Beginn der Luftangriffe nicht die geringsten Vorkehrungen getroffen waren, um den Flüchtlingen zu helfen. Nicht eine Wolldecke, nicht ein einziges Fieberzäpfchen für Babys, nicht eine Tüte Milch, überhaupt nichts von den Gütern des in einer solchen Katastrophe dringendst Gebrauchten waren an die Grenzübergänge zu Mazedonien und Albanien gebracht worden, nicht einmal in der Etappe waren diese Dinge vorhanden. Wie viele Gebärende, Kinder, Greise, Kranke mögen wegen dieses Versäumnisses gestorben sein?

Man konnte nicht wissen, dass die serbische Seite mit dieser Entfesselung von Brutalität und ethnischem Rigorismus auf die Angriffe reagieren würde, wird uns gesagt. Wenn die Verantwortlichen in der NATO, z.B. dieser Generalsekretär Solana, und in den Regierungen der „wichtigsten Mitgliedsländer“ nicht vorausgesehen haben, was den Kosovo-Albanern jetzt blüht, dann sind sie ihrem Job nicht gewachsen, dann bedeutet ihr Verbleiben in ihren macht-vollen Positionen für Europa die Alarmstufe 1. Aber natürlich haben sie, wie jeder Europäer (über Amerika will ich hier nicht urteilen), der seine fünf Sinne beieinander hat, gewusst, dass sich der Diktator und seine Mordbanden auf diese Weise an den Kosovo-Albanern rächen werden, dass die Mordbanden von bisher Schwankenden Zulauf bekommen werden – Schwankende, denen es durch die NATO-Bomben jetzt leichter gemacht wird, den anerzogenen menschlichen Anstand endgültig abzustreifen (das exkulpiert sie nicht.) – Die Vorsorge an den Grenzen unterblieb aus dem Kalkül, täglich die Bilder des Elends als Propagandamaterial zur Rechtfertigung des Krieges weltweit und rund um die Uhr einsetzen zu können. Was wären Solana, Shea, Scharping … ohne diese Bilder!

Wie man hört (DLR Berlin), haben zumindest die Amerikaner eine kommerzielle PR-Agentur eingesetzt, um die Auswahl, Ausgabe, Dosierung von Bildern und Meldungen zu managen – wie 1991 im Golfkrieg.

 

Folgen des Bombenkrieges gegen Jugoslawien:

• erhebliche Verschlechterung der Situation der Kosovo-Albaner. Offen-sichtlich müssen sie bis zum heutigen 35. Tag der Bombardierung jede neue Verschärfung, jede die Serben demütigende spektakuläre Zerstö-rung mit Leib und Leben bezahlen. Wer etwa das serbische Fernsehen zerstört, weiß, dass dies den Tod, die Misshandlung, die Vertreibung von zahlreichen weiteren Kosovo-Albanern zur unmittelbaren Folge hat.

• Zerstörung von Infrastruktur und Wirtschaft Jugoslawiens einschließlich des Kosovo. Wie weit hat die NATO Jugoslawien bis heute „zurückgebombt“? In die 40er Jahre, oder schon in das vorige Jahrhundert? Wie lange braucht die NATO noch bis zur Steinzeit?

• Nach dem Krieg wird es eine immense Fluchtbewegung nicht nur aus den zerstörten Gebieten in Richtung Westeuropa geben – „Wirtschafts-flüchtlinge“, denn der Lebensstandard wird auf dem ganzen Balkan noch erheblich weiter unter das westeuropäische Niveau sinken. Ein „Marshall- plan“ greift, wenn überhaupt, erst nach vielen Jahren der Mühen und Entbehrungen.

• Traumatisierung der Serben, Wiederaufleben der Ressentiments gegen-über Deutschland und den Deutschen – für wie viele Generationen diesmal? Vorbehalte, Argwohn, Misstrauen werden lange die Gefühle der Serben gegenüber dem Westen prägen.

• Solidarisierung vieler bisher indifferenter oder sogar oppositioneller Serben mit „Serbien“, also mit Milosevic. Feindliche Gefühle bis zum Hass gegenüber den bombardierenden Ländern.

• Russland wird, wie lange auch immer der Krieg noch dauern und wie auch immer er ausgehen mag, aufrüsten – unabhängig von Art und Um-fang der Einbindung Russlands in künftige Waffenstillstände und Ver-träge. Das ohnehin vor allem aus wirtschaftlichen, aber auch außenpoli-tischen Gründen bereits beschädigte Vertrauen Russlands, auch der russischen Bevölkerung, in den Westen, ist zerstört und bleibt es für lange Zeit, vielleicht über Generationen.

Da ist es wieder, das gute, alte Wettrüsten. Kann man sicher sein, dass nicht genau das gewollt war? „We need that war, it keeps our economy going“, wie mir als Student mal ein hoher amerikanischer Beamter zum Kalten Krieg gesagt hat.

• Auch andere, auf ihre nationale Souveränität bedachte, Länder, vor al-lem in der Dritten Welt, werden „nachrüsten“, und zwar in adäquater Weise, nämlich auf dem Gebiet atomarer, chemischer und biologischer Waffen – einschließlich der ballistischen Systeme, die notwendig sind, um diese Waffen ins Ziel zu führen. Sie werden ihre (meist vergleichs-weise schwachen) Volkswirtschaften bis auf das Äußerste strapazieren, um abschrecken und notfalls sich wehren zu können, sollten sie einmal in das Visier der bzw. des Weltpolizisten geraten. Vgl. Paul Virilio: Die Infantilisierung des Präsidenten. Technische Illusionen eines weltlichen Kreuzzugs: Die NATO und der Kosovo, in: F.A.Z. vom 27.4.1999.

• Damit steigt auch die Gefahr von mit Massenvernichtungswaffen ge-führten Kriegen zwischen rivalisierenden „armen“ Ländern erheblich.

• Weißrussland und die Ukraine haben bereits durchblicken lassen, dass sie den Verzicht auf nukleare Waffen wohl voreilig unterschrieben haben (FAZ).

• Die Kosten – auch für uns. Die Rechnung wird noch präsentiert: höhere Mehrwertsteuer, Sozialabbau usw.

Übersieh bitte in der FAZ (16.4.99) nicht den Artikel „Die Vereinigten Staaten werden in Rauch aufgehen“. Die hier mit den Stimmungen in der russischen Bevölkerung und mit anderen Fakten, aber auch mit macht- und militärpsycho-logischen Zwangläufigkeiten unterlegte Befürchtung, dass es zu der Extremsituation kommt, quält Maria und mich seit der ersten Bombennacht.

 

Wie ist es nur möglich, dass

• angesichts der von Demütigungen und vom Gefühl, betrogen worden zu sein, geprägten sozialpsychologischen Situation in Russland,

• angesichts der weitgehend chaotischen Macht- und damit militärischen Befehlsstrukturen,

• angesichts der Tatsache, dass sich Russland aus seiner technologischen, logistischen, infrastrukturellen und organisatorischen Unterle-genheit heraus überhaupt nur atomar „wehren“ kann,

• angesichts der Möglichkeit eines Sturzes von Jelzin durch nationalistisch-aggressive Cliquen – mit Massenbasis! –

• angesichts der Bombardierung der Botschaft der VR China – drei Tote. Gerwin hat irgendwo gelesen, dass der US-Luftwaffe die militärischen Ziele ausgegangen sind, hatte man doch mit einem raschen Einknicken Milosevics gerechnet. Auf der auf Ersuchen der Luftwaffe von der CIA ausgearbeiteten Ergänzungsliste befand sich eben auch das Gebäude der chinesischen Botschaft – natürlich unter anderer Bezeichnung.

• angesichts des daraus abzuleitenden plausiblen, mit X %iger Wahrscheinlichkeit realistischen Horrorszenarios

• die rot-grünen Eliten in Deutschland sich (und uns) auf dieses Va-banquespiel eingelassen haben und nun schon, trotz totalen Misserfolgs, trotz zunehmender Gefahr der Ausweitung des Krieges, an die-sem gnadenlos destruktiven Abenteuer festhalten? Wie ist es möglich, dass die intellektuellen Eliten, bis auf wenige Ausnahmen, und dass die Masse der Fernseher, diese Politik des „wir wissen nicht, wie es ausgehen wird und ob es überhaupt nützt, aber wir machen weiter“, hinnehmen?

Unsere politischen Repräsentanten putschen sich im Bundestag gegenseitig zu kraft- und moralstrotzenden Wortausbrüchen auf, toben sich an dem kleinen Gysi aus – und benennen mit keinem Wort die Gefahr der einen, letzten Katastrophe, die sie für uns alle heraufbeschworen haben.

Diese Angst vor dem endgültigen Ende, die uns jetzt schon in der vierten Woche unentrinnbar bedrückt, beherrschte mich in „Friedenszeiten“ zweimal: während der Cuba-Krise und während der NATO-Raketenaufrüstung. Ob wir auch dieses Mal davonkommen?

Am 29.4. auf S. 3 der FAZ, ich traute ich meinen Augen nicht, die fette Überschrift: „Wir werden siegen, weil wir siegen müssen.“ O-Ton Schröder und Blair, vorher bereits Solana. Weißt Du, dass genau dieser absurd unlogische, demagogische Satz eine der beliebtesten Durchhalteparolen von Goebbels war? Exakt wörtlich so! Na dann Sieg Heil!

Gespräch mit Akin Birdal, Vorsitzender des türkischen Menschenrechtsvereins (IHD) in der FAZ v. 5.5.1999 (Horst Bacia):
Zum Krieg in Kurdistan: „Wie sollen wir uns einerseits für die Menschenrechte einsetzen“, sagt Birdal, „und andererseits nicht sehen, dass es seit 15 Jahren einen Krieg gibt, der 35.000 Menschenleben gefordert hat, in dem 4.000 Dörfer geräumt wurden und 3,5 Mio. Menschen ihre Häuser verlassen mussten, in dem Dörfer und Wälder niedergebrannt wurden, in dem es Folter, verschwundene Personen und Morde gegeben hat …“

Gestern in den Tagesthemen: Zwei Belgrader Grüne in Bonn. Eine davon ist Biljana Jovanovic, Mitautorin von „Briefe von Frauen über Krieg und Nationa-lismus“ (SV 1993). Sie, seit eh und je Milosevic-Gegnerin, hat geschildert, wie sich das nunmehr über 4wöchige Bombardement auf die Menschen auswirkt. Es kam mir vor, als würde sie über meine eigenen Kindheitserfahrungen mit „Allied Force“ sprechen. Hat dieses Leiden kein Mit-Leid verdient? Wieso reagiert der Gefühlshaushalt der Deutschen so einseitig? Deutsche Gefühle – nur ein anderer Ausdruck für Ressentiments?

Dieses nicht wissen, was wirklich passiert, Gerüchte, Behauptungen, Zitate aus Quellen im Nebel oder ganz ohne, Dementis. Das ist so furchtbar quälend, ich muss sagen, einfach nicht zu ertragen. Diese Ungewissheit und Ohnmacht, das Ausgeliefertsein an die Krieg-, Polit- und Medienmacher, zerstört mich je-den Tag ein Stück mehr. … Heute in der FAZ dieser Bericht vom ZDF-Berichterstatter vor Ort, Jörg Brase. Er schildert ja recht anschaulich, wie „Nachrichten“ an den Grenzen des Kosovo entstanden sind bzw. gemacht werden, aber am Schluss leistet er sich eine Riesensauerei. Er berichtet eine Untat, die wohl das Schrecklichste, Böseste darstellt, was unter Gottes Him-mel überhaupt geschehen kann: „… Und eines abends saßen da zwei Polizis-ten, und haben eine Wette gemacht: ‚Ist es ein Junge, zahlst Du das Bier, ist es ein Mädchen, dann zahle ich’, haben sie gesagt. Und dann ist einer aufge-standen, und hat mit dem Messer einer schwangeren Frau den Bauch aufgeschlitzt und den Fötus herausgeholt, und es war ein Junge, und er hatte die Wette gewonnen.“ Aber was ist die Quelle des Jörg Brase? Ein Kosovo-Albaner im selben Zugabteil – zwischen Mainz und Köln(!), eine Zufallsbekanntschaft, dessen kurz referierte Vita Unglaubwürdiges, sogar einen offensichtlichen Widerspruch enthält. Es ist empörend, dass Brase so eine Geschichte, die ja in den Köpfen der Leser etwas bewirken muss (Du merkst es an mir), trotz äußerst dubioser Quellenlage hunderttausendfach drucken lässt. So ent-stehen Feindbilder, ganz tiefsitzende, vielleicht kaum noch zu löschende, vor allem bei jungen Lesern. Das Schlimme: die Untat könnte ja wirklich geschehen sein, oder doch nicht? Qual ohne Ende …

Die Serben, die wir heute besuchen (er ist Vorsitzender des serbischen Kulturvereins in Berlin), sind ausnahmslos substantielle Gegner von Milosevic, aber dennoch entsetzt über die Bombenangriffe. Sie müssen täglich bei Verwandten und Freunden anrufen, um zu erfahren, ob sie die Nacht überlebt haben. Ich kenne das aus den Jahren 43/44: Die Meldung im Radio „Schwerer Angriff auf die Reichshauptstadt“ ließ uns bange fragen: Haben all die Unseren überlebt?, und nach Aufklärung suchen.

Zwei der „Unseren“ haben nicht überlebt: meine Urgroßmutter, die ich Anfang 1943 noch besucht hatte, starb 1945 in Kreuzberg durch Bomben, den Mann der besten Freundin meiner Mutter, drei kleine Kinder, davon eines behindert, erwischte Allied Force am Titaniapalast in Steglitz.

Der Erlebnisbericht meines Con-Jahrgangs in der FAZ v. 29.4.:
Charles Simic: Ich spielte Krieg im Krieg in Belgrad. Belgrad wurde im 2. Weltkrieg zweimal bombardiert: 1941 von den Deutschen, 1944 von den Amerikanern. Und beim dritten Mal von Deutschen und Amerikanern gemeinsam. Was sollen die Leute dort von uns halten?

 

19.6.99

Nun ist der Krieg aus (sagt die NATO), die „westliche Wertegemeinschaft“ hat gewonnen. Die jugoslawischen Truppen sind fast abgezogen, wohl auch die serbischen Banden. Die Flüchtlinge kehren zurück: alles zerstört, Minen, angereichertes Uran von den amerikanischen Bomben. Rache der UCK an den Kosovo-Serben (kaum Schutz für diese durch KFOR), wieder ein Flüchtlingsstrom aus dem Kosovo. Das Waffenstillstandsabkommen: Wäre dieser Text in Rambouillet den Jugoslawen vorgelegt worden, hätten sie mit Sicherheit unter-schrieben, denn die jugoslawischen Forderungen von damals sind erfüllt: UNO-Mandat einschließlich russischer Beteiligung, Beschränkung der KFOR-Aktion auf den Kosovo. Der Vertragstext von Rambouillet sah dagegen in seinem Appendix B uneingeschränkte Bewegungsfreiheit der NATO in ganz Jugoslawien vor – zu dessen finanziellen Lasten! Kein souveräner Staat der Erde kann so etwas unterschreiben. Einzige Differenz wäre gewesen: NATO-Oberkommando. Ein Kompromiss wäre möglich gewesen, etwa in der Art von dem, der jetzt mit den Russen gefunden wurde. Und wenn nicht: zerbombt man ein ganzes Land wegen einer Meinungsverschiedenheit in einer völlig nebensächlichen Frage? Völlig nebensächlich jedenfalls in Bezug auf das vorgebliche Ziel, den Menschen im Kosovo zu helfen. Wir müssen uns dieser absurden Wahrheit stellen: Der jetzt erreichte vertragliche und faktische Zustand wäre ohne Bombardierung und ohne Vertreibung der Kosovo-Albaner zu haben gewesen! Dem müssen wir uns stellen, auch wenn uns diese Erkenntnis in den Wahnsinn zu treiben droht. Und wir müssen uns fragen: War das so gewollt, wollte irgendjemand unbedingt den Bombenkrieg? Wer, und warum?

 

* „Ich bin im Zuge dessen nach Schlagabtausch bei einem Grünen Großtreffen in Dort-mund mit vielen anderen aus der Partei ausgetreten. Ich sah keine Möglichkeit, dort noch irgendetwas zu bewirken. Auf der anderen Seite weiß ich, dass den Bellizisten diese Abspaltung gerade recht war, um den Laden unangefochten zu übernehmen. In der Zugfahrt dorthin saß ich in einem Abteil mit Christian Ströbele, der gestern gestor-ben ist. Auch er hat sich gegen die Bellizisten um Fischer gestellt. Ein Austritt aus dem Laden war ihm als Mitgründer nicht möglich, zu viel Herzblut. Als sie ihn absägen wollten und einen Listenplatz verweigerten, hat er sich tüchtig revanchiert und das Direktmandat für den Bundestag in Kreuzberg mehrfach geholt.“ Gerwin, 1.9.2022